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Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)

Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)

Titel: Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick McGuinness
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gehörst nicht zu uns! Du gehörst zu gar nichts – du stehst außen vor. Du bist nur ein Zuschauer! Du lässt dich treiben. Du machst alles mit, schließt dich jedem an – Leo, Ottilia, Trofim, diesem alten Stalinisten, dem schleimigen Fettsack dort.« Sie nickte zu Wintersmith, der mit dem stellvertretenden Außenminister an der Bar stand; er merkte, dass wir von ihm sprachen, und winkte uns. »Florian hat Dinge bewegt, die Spielregeln neu geschrieben. Er war nicht böse, sondern wollte nur mehr, als er hatte, genau wie wir alle. Er hat sich dieses System nicht ausgesucht, aber er hat es für sich genutzt. Er hat die Welt nicht zu dem gemacht, was sie ist. Er ist nicht wie Stoicu oder Ceaușescu. Nicht einmal wie Manea Constantin. Er hat es nicht nötig, Diebe, Mörder und Mitläufer über sich richten zu lassen.«
    »Eine Scheißlogik. Das ist krank.« Ich wusste nicht, wie Belanger aussah, hatte aber ein Bild mit unkenntlich gemachtem Gesicht vor Augen, das all meinen Hass auf sich zog. »Wo hält er sich jetzt auf?«, fragte ich.
    Ein feuchter Luftzug im Nacken, ein Moderhauch, wie er einen beim Zufallen einer Kellertür anweht, verriet mir, dass Wintersmith hinter mir stand. Cilea zog ihre Handschuhe an. »Freut mich, dass Sie da sind«, sagte Wintersmith und wollte ihre Hand küssen, als wäre dies die seiner neuen, gehobenen Position angemessene Art der Begrüßung.
    »Ich muss los«, sagte sie, umarmte mich knapp und eilte aus der lauten Bar.
    »Ich hole Ihnen ein Bier«, sagte Wintersmith und lüpfte eine Augenbraue. »Danach erzählen Sie mir alles …«
    Während er an der Theke stand, brach ich auf. Draußen drängte die Temperatur langsam unter den Gefrierpunkt. Der Winter bleckte seine Zähne.

SECHS
    In jener Nacht träumte ich, in einem Zug zu sitzen. Ich nickte ein, und als ich erwachte, schwankte der Wagen, Bremsen kreischten, Räder ächzten auf Schienen, Funken sprühten, alles roch nach Schwefel. Mäntel und Koffer fielen von Gepäckablagen. Am Himmel schwang der Mond hin und her wie die Uhr eines Hypnotiseurs.
    Meine Eltern hielten sich weiter hinten im Wagen auf. Sie bewegten sich gelassen durch das Chaos, schienen durch die Luft zu gleiten. Ich versuchte durch den wankenden Wagen zu ihnen zu gelangen, aber sie wichen immer weiter zurück, wurden immer schemenhafter. Anfangs verzogen sie keine Miene, doch je tiefer sie in den Schatten versanken, desto entsetzter und schmerzerfüllter wirkten sie; ihre Gesichter schmolzen bis auf die Knochen, wurden in der Dunkelheit zu nichts. Sie reckten mir die Hände hin, während sie in der Schwärze verbrannten wie auflodernde Filmrollen, und als ich nach ihnen greifen wollte, waren sie verschwunden. Ich hatte warme Asche auf den Fingern.
    Als ich am frühen Morgen zum zweiten Mal erwachte, wirkte dieser Albtraum weiter in mir nach. Im nächsten Moment wurde mir bewusst, dass das Haus bebte. Es wankte vom Keller bis zum Dach, als würde eine Welle hindurchgehen. Scheiben klirrten, dann trat Stille ein – eine Grabesstille wie nach einer Katastrophe: unbewegte Luft, die Zeit zertrümmert, sich mühsam wieder sammelnd.
    In meinem Schlafzimmer war die Gardinenstange abgefallen, Putzbrocken lagen auf dem Oberbett. Der Fensterrahmen war lose. Die Bücherregale standen schief. Beim Aufstehen war ich erstaunt, dass sich der Boden unter meinen Füßen noch fest anfühlte. Es war kalt, eisige Zugluft pfiff ins Zimmer, und als ich auf den Balkon trat, gab dieser etwas nach – das Gebäude sank in seine Grundfesten zurück.
    Zwischen Straße und Bürgersteig, Bürgersteig und Häusern, Erdgeschoss und Dachtraufe schien alles aufgeplatzt zu sein. Die Nahtstellen der Welt waren gerissen, die Innereien der Stadt lagen bloß: Wasser sprudelte aus Rohren, Kot und Schlamm ergossen sich aus der Kanalisation, Erde und Geröll türmten sich auf. Fontänen schossen aus Hydranten, regneten auf Bürgersteige. Wie Monster der Tiefe quollen Abwässer durch jeden Riss, bräunlich und schillernd und schäumend, sobald sie an die Luft gelangten.
    Ich zog mich an und lief nach unten. Das Geländer war lose, unten im Flur hing der Kronleuchter am seidenen Faden des Kabels. Der Strom war ausgefallen, was in Anbetracht der unter Wasser stehenden oder in Kloakendreck ertrinkenden Leitungen nicht weiter verwunderlich war. Eine Wand im Flur hatte einen Riss, gezackt wie ein Blitz, durch den der eisige Wind pfiff.
    Ich hörte weder Geschrei noch Sirenen; niemand war in Panik geraten,

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