Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)
wurde immer wieder zurückgestoßen. Schließlich zog ihm ein Beamter der Securitate seine Pistole über den Schädel und schleifte ihn in ein bereitstehendes Auto. Das Auto fuhr los, hielt aber nach hundert Metern wieder. Leo wurde in den trockenen Kanal gestoßen. Als ich ihn endlich erreichte, lag er leblos auf dem Grund und blutete aus einer Kopfwunde.
Ich trug Leo mit Hilfe zweier Roma zur Straße und rief Ioana aus einer Telefonzelle an. Ihre ersten Worte lauteten: »Was hat er jetzt schon wieder angestellt?« Sie lieh sich den Lada ihres Nachbarn und fuhr sofort los. Wir legten Leo auf den Bürgersteig; ich hielt seinen Hinterkopf, spürte das warm und klebrig aus der Wunde quellende Blut. Sobald Ioana da war, löste sie mich ab. Ich rief im Krankenhaus an und hinterließ Ottilia eine Nachricht auf Englisch – hoffentlich unternahm sie etwas. Leo hatte blaue Lippen, sein Atem ging äußerst schwach. Wenn die Leute, die den Lebenden halfen, nicht erreichbar waren, musste ich mich an jene wenden, die sich um die Toten kümmerten.
»Ich sehe zu, was ich tun kann«, sagte Campanu. Ich hörte, wie er an seiner Zigarette zog, dann klirrte es, als würde ein Gegenstand aus Metall auf Porzellan fallen. Hätte ich nicht gewusst, dass er mitten in einer Obduktion war und gerade ein Skalpell in eine Schale legte, wäre ich davon ausgegangen, dass er nach dem Essen das Besteck niederlegte und sich eine Zigarette gönnte. »Wie Sie wissen, bin ich Spezialist für das andere Ende des Vorgangs … Aber ich tue mein Möglichstes.«
Kurz darauf traf er samt Trage und einem ganzen Berg schwarzer Leichensäcke in einem Wagen des Leichenschauhauses ein. Campanu betastete Leos Hände. »Schon kalt«, sagte er, fühlte den Puls und horchte auf den Atem. »Wir haben nicht viel Zeit …«
Im Krankenhaus sah ich zuerst Ottilia, die sich mit einer Rolltrage in der Eingangshalle bereithielt. Neben ihr zog eine Krankenschwester wie wild an ihrer Zigarette und trat in der Kälte von einem Fuß auf den anderen. Es war inzwischen fast dunkel.
»Ich habe deine Nachricht erhalten«, sagte Ottilia. »Diana hat dich gehört, als sie im Büro eine geraucht hat. Bringt ihn rein. Und haltet den Kopf ruhig.« Wir hoben Leo auf die Rolltrage. Das Krankenhaus wirkte wie immer verlassen.
Drinnen zückte Ottilia das Stethoskop und horchte Leo ab. Ich sah, wie sie fast unmerklich den Kopf schüttelte, wagte aber nicht, daran zu denken, was das bedeuten mochte. Die anderen hatten es nicht bemerkt – Ioana strich über Leos blutdurchtränkte Haare, Campanu lenkte die Rolltrage durch die endlosen Flure. Ottilia zog eines von Leos Lidern hoch: Die Pupille des wie erstarrten, blutunterlaufenen Auges war weit nach oben geglitten.
»Bei einer Schädelbasisfraktur ist nicht das austretende Blut das Problem. Ausschlaggebend ist, wie es innen aussieht. Ich habe keine Mittel zur Behandlung einer Gehirnblutung. Wenn ein Knochensplitter in die Gehirnmasse eingedrungen ist, kann ich sowieso nichts mehr tun. Man muss auf jeden Fall mit einer Verletzung des Gehirns rechnen. Ich kann erst Genaueres sagen, wenn ich die Wunde gesäubert und untersucht habe.«
Wir schoben Leo in den Operationssaal. »Ich werde versuchen, seinen Zustand zu stabilisieren. Mit etwas Glück ist es nur eine oberflächliche Kopfverletzung, vielleicht eine Quetschung … Dann gäbe es zwar immer noch ein Risiko, aber damit könnte ich umgehen. Leider hat er auch viel Blut verloren … Er braucht eigentlich eine Transfusion …«
»Nein!« Campanu schüttelte den Kopf. »Nein – auf keinen Fall. Das wäre zu riskant. Das Blut wird hier nicht gründlich untersucht. Die Leichenschauhäuser sind voller Toter, die sich durch eine Transfusion mit Hepatitis B infiziert haben. Und vergessen Sie AIDS nicht. Sie dürfen das nicht tun. Das wäre ein Vabanquespiel.«
»Die Entscheidung liegt bei euch«, sagte Ottilia, die zuerst Ioana und dann mich ansah. »Ich habe euch die Optionen genannt. Wir haben Blut. Aber Campanu hat recht – man hat es nicht untersucht. Dazu fehlen uns die Möglichkeiten. Wir wissen nicht, ob es sauber ist. Wir wissen gar nichts …«
»Wenn es nicht anders geht …«, brachte ich hervor. Ioana sah mich schweigend an. Ottilia nickte.
Die Krankenschwester holte einen Ventilator und stellte einen Tropf auf. Ottilia legte eine Kanüle und schloss den Schlauch an. Dann winkte sie uns weg. Campanu blieb bei ihr. »Ich informiere euch, sobald ich mehr weiß«, sagte sie,
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