Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)
schwerer Kran stürzt um, aber der kleine Porzellanhund auf dem Regal bleibt heil …«
Leos Ausführungen waren nicht ganz stimmig, aber das war ihm egal. In seinen Augen war das Erdbeben ein Strafgericht für die von Ceaușescu an Bukarest verübten Grausamkeiten. Die alten Kirchen und Häuser hatten standgehalten, doch die neuen, riesigen Nachbarbauten hatten Risse vom Fundament bis zum Dach. Selbst wenn man Leos exzentrischen urbanen Animismus nicht teilte, musste man das Gefühl haben, dass es sich um eine alttestamentarische Vergeltung handelte. Ich rechnete halb damit, dass demnächst Heuschreckenschwärme über die Stadt herfallen würden.
Ionescus Büro befand sich oben in der Kuppel der Bibliothek. Unser alter Chef kochte Kaffee mit Tsuica, während wir auf die verheerte Stadt hinabsahen. In der Morgendämmerung setzte sich die Skyline Bukarests wieder zusammen. Das Stadtzentrum wirkte normal: Der nadelspitze Turm des Scînteia -Gebäudes stand noch, ebenso die Türme der drei Kathedralen. Darunter konnte man die schiefen Dächer und Kuppeln der Altstadt sehen, niedrige Hügel zwischen hohen Gipfeln. Die eigentliche Zerstörung zeigte sich in den Randbezirken, dort, wo Bukarest endete, wo sich urbane Einöden wie die Ringe des Saturns bis in weite Ferne zogen.
»Ist dir aufgefallen, was fehlt?«, fragte Leo und zeigte auf die eingestürzten obersten zwei Stockwerke eines Wohnblocks.
»Lärm?«, spekulierte ich. »Menschen und Lärm?« Beides fehlte hier oft.
»Das auch. Aber schau dir die kaputten Betonwände der Wohnungen mal genauer an – die Stahlträger fehlen. Nach ein paar Etagen stocken sie einfach immer weiter auf, ohne sich mit Trägern und Balken aufzuhalten. Sie klatschen Stockwerk auf Stockwerk, Stein auf Stein. Weiter oben gibt es nichts mehr, was das Gebäude stabilisieren könnte.«
Während der nächsten Wochen wütete ein Abrisswahn, der sogar hartgesottene Beobachter erschreckte. Die Baubehörde nahm das Erdbeben zum Vorwand, ganze Straßenzüge des alten Bukarests dem Erdboden gleichzumachen. In Vierteln wie Lipscani, Dudesti und Dorobanti holte man die Leute aus ihren Häusern und steckte sie in Wohnsiedlungen, die sowohl unfertig als auch baufällig waren. Nach dem Erdbeben hatten viele Neubauten das Flair unromantischer Ruinen, die zwischen der ausgelöschten Vergangenheit und der ausbleibenden Zukunft in der Falle saßen.
Leo und ich filmten und fotografierten die Abrissarbeiten, kamen aber nicht mehr hinterher. Ich verknipste ein Dutzend Filme und hätte noch Dutzende mehr belichten können. Leo ließ sie entwickeln und verschickte sie, schrieb Berichte für Reuters, Le Soir , Le Figaro . Die Diplomaten in Bukarest, dirigiert von Ozeray, protestierten. Was hier geschah, war allerdings nur die Spitze des Eisberges: In der Provinz, in Sibiu, Timișoara, Moldova und anderen Regionen, in denen Minderheiten lebten, löschte man sämtliche Spuren fremder Kulturen. Es war eine Tragödie: Jahrhundertealte Dörfer wurden innerhalb eines Vormittags von Bulldozern eingeebnet; anschließend errichtete man Wohnblocks inmitten von Brachland oder Fabrikanlagen, die an verlassene Weltraumstrafkolonien erinnerten. Rumänien wurde flächendeckend in einen geschichtslosen Nichtort verwandelt.
»Siehst du das?«, fragte Leo und zeigte auf den Palast des Volkes, das größte Bauwerk der Welt, das mit seiner Marmorverschalung, dem Stahl und dem Beton den ganzen Horizont verschluckte. »Das wird das größte Mausoleum der Welt. Nach seiner Fertigstellung wird sich der ganze Kommunismus darin verkriechen, die Türen verriegeln und sterben. Sie glauben, die Stadt der Zukunft zu erbauen. In Wahrheit bauen sie ihre eigene Gruft. Eine Megalomanen-Nekropole, eine neue Stadt der Toten, die auf ihre Bewohner wartet.«
Am ersten November wurden wir Zeugen der schlimmsten aller Zerstörungen, jenes Abrisses, der zu einem Mahnmal des Vandalismus, der Brutalität und der Farce dessen werden sollte, was als »Neukonzeption« der Stadt galt.
Das Kloster Sankt Cyril und Methodias hatte seit Jahrhunderten am Südwestufer des Kanals gestanden. Jetzt war es im Weg, sein vierhundert Jahre alter Turm ein Schandfleck in der neuen Skyline. Das Kloster hatte Erdbeben überstanden, Brände, Holzwürmer, die Türken, Vernachlässigung und Verfall, aber nun musste es dem »Volksvergnügungspark« weichen, einem kommunistischen Garten der Lüste mit bunten Arkaden und Videospielen, grauer Zuckerwatte und ständiger
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