Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)
dass niemand unbescholten ist, dass ich mich an das hätte halten sollen, was uns zur Verfügung steht, an die Realität unseres Lebens. Da ein bisschen verbiegen, dort ein wenig gewinnen …«
»Du klingst wie Leo.«
»Wirklich? Tja, vielleicht ist es an der Zeit, dass ich ein bisschen wie er werde.«
»Wir haben alle keine weiße Weste. Auch Petre hatte keine. Selbst dann, wenn er nicht im Dienst Constantins gestanden hätte. Die Frage ist immer, wie weit man geht.«
»Und du? Hast du dich kompromittieren lassen? Ich glaube nicht.« Sie drehte sich stirnrunzelnd zu mir um, als käme ihr dieser Gedanke zum ersten Mal.
»Wie meinst du das? Soll das ein Kompliment sein? Ich sollte mich vielleicht kompromittieren lassen. Vielleicht ist das mein Problem.«
»Ganz genau – um dich bloßzustellen, müsstest du etwas zu verlieren und etwas zu gewinnen haben, mit im Spiel sein. Du müsstest deine Existenz riskieren – nicht ständig, aber so oft, dass du gezwungen wärst, Prinzip gegen Selbsterhaltung, Verlust gegen Gewinn abzuwägen. Aber in deinem Fall ist das überflüssig. Für dich steht hier nichts auf dem Spiel.«
»Das klingt nicht nett – außerdem steht für mich etwas auf dem Spiel: Leo, Trofim, meine Arbeit. Mein Leben spielt sich hier ab. Anderswo habe ich nichts zu erwarten. Und dann gibt es noch dich, oder …?« Ich verstummte. Sie küsste mich und drehte sich um, schmiegte sich an mich und legte eine Hand auf meinen Oberschenkel. »Oder was?«
SIEBEN
Als ich am neunten November abends nach Hause kam, saßen Leo und Ottilia vor dem Radio und versuchten den Sprecher zu verstehen, der gegen eine große Geräuschkulisse anreden musste, die durch die Vibrationen des Rahmens meines Langwellenradios noch verzerrt wurde.
Es war der Lärm eines Aufruhrs, jedoch eines freudigen Aufruhrs. Der Reporter versuchte, den euphorischen Tumult zu übertönen. Er hielt immer wieder inne, um sich zu sammeln – seine Worte waren im Schutt abgebrochener Sätze verstreut –, um dann von neuem anzusetzen. Das statische Knistern, dazu die Störungen durch die eigens dafür ins All beförderten rumänischen Satelliten, all das hatte zur Folge, dass wir viele wichtige Details nicht mitbekamen.
Wir lauschten dem Fall der Berliner Mauer. »Man wird sie alle töten«, sagte Ottilia, während die Ostberliner den Beton mit Spitzhacken und Hämmern, mit Gabeln und Messern und manchmal mit bloßen Fingern bearbeiteten. Der Reporter schilderte die untätig daneben stehenden Polizisten und die Grenzbeamten, die vom Ausmaß dessen, was sich vor ihren Augen abspielte, wie gelähmt waren. Sie hatten soeben den Befehl erhalten, nicht einzugreifen. Manche sahen der Menge strahlend zu – Jahre der Furcht und der Nötigung waren auf einmal wie weggeblasen.
Leo und ich jubelten. Ottilia reagierte anders – sie war überzeugt, dass man die Menschen erschießen würde, dass jeden Moment Panzer anrollten. Gut, dass sich dies wirklich ereignete, denn Ottilia wäre nicht fähig gewesen, es sich vorzustellen: Der Fall der Mauer, den sie gerade im Radio miterlebte, war für sie etwas Unfassbares. Durch Leos Geschick mit Fernseher und Kabelsignalbox bekam Ottilia schließlich, was sie am meisten ersehnte: Livebilder aus Berlin.
Erich Honecker, Staatsratsvorsitzender der DDR, war zurückgetreten. Er hatte Bukarest im Mai besucht – ich erinnerte mich an die Autokolonne mit den glänzenden schwarzen Wagen, die über die Straße geglitten waren wie ein Ölfilm über Wasser. Vor zwei Wochen hatte er Ceaușescu in Ostberlin empfangen; wieder einmal hatte es brüderliche Grüße und Gespräche unter Steuermännern gegeben. Nun hatte Honecker abgedankt, und es wäre nur eine Frage der Zeit, bis die Begriffe Schiffbruch und Treibgut in das nautische Metapherngut Einzug halten würden.
Man berichtete die ganze Nacht. Irgendwann wurde ein Hollywoodschauspieler mit deutschem Namen, Star einer beliebten Show über kalifornische Rettungsschwimmer, auf die Mauer gehievt. Diese aufgeblasene, alberne Kunstfigur des Showgeschäfts sang so lausig und bot eine so surreale Vorstellung, dass die auf die Mauer einhämmernden Ostberliner in ihrer Euphorie kurz innehielten, um ihn müde und verächtlich anzustarren. Leo nickte philosophisch: »Das ist der Preis, den man für die Freiheit bezahlt. Es gibt immer einen Preis …« Dann riss er ein Beck’s auf und reckte die schäumende Dose: »Auf die Freiheit!«
In Bukarest brach der zehnte November mit den
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