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Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)

Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)

Titel: Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick McGuinness
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gezeigt wurde, eine surreale Satire auf den Kommunismus. Die Zensur hatte den Film sicher nicht wegen des Inhalts, sondern wegen der politischen Einstellung des Regisseurs freigegeben. Die wie Politbüromitglieder aussehenden und sprechenden Darsteller mästeten sich gemeinsam mit ihren Frauen an Speisen wie im Capsia. Ihr flaches Geplapper offenbarte das einzige, was tief in ihnen verwurzelt war: schweinische Gier, Angst und eine durch Trägheit gedämpfte Bösartigkeit.
    Der Kinosaal war ein ehemaliges Theater mit Logen und fleckigen Velourssitzen, in deren Armlehnen Art-Nouveau-Aschenbecher eingelassen waren. Man sah die Filme durch einen Nebel aus Carpati-Qualm, der jedoch nicht gegen Knoblauchmief und Tsuica-Dunst anstinken konnte. Die Zuschauer schienen den Film zu mögen, aber die Zensur würde ihn vermutlich nicht noch einmal durchwinken.
    Arbeiter und Studenten im Publikum jubelten, als man die Großbürger erschoss, und buhten, wenn die Happen während der zahlreichen Essen über bourgeoise Lippen wanderten. Hinten im Kino ertönten Rufe wie: »Nieder mit den Schweinen!«, oder: »Ceaușescu, du Blutsauger!« Das Gelächter war ohrenbetäubend.
    Da gingen die Seitentüren auf, und Securitate-Männer traten in die erleuchteten Ausgänge. »Verpisst euch in eure Höhlen!«, brüllte jemand in der Menge. Andere verhöhnten die Beamten als »Ratten!«, »Nazis!« und »Diebe!«. Die Türen schlossen sich wieder, und das Publikum jubelte, aber nur die Naiven glaubten, dass die Securitate abgezogen war. Nach dem Film liefen Beamte durch die Reihen und verlangten die Ausweise; im Hellen rissen nur noch die Trotzigsten das Maul auf. Ein junger Mann steuerte auf die Securitate-Männer zu, die den Ausgang bewachten, und wedelte mit etwas, das wie ein Parteiausweis aussah.
    Es war Oleanu, Spitzel und einer meiner Studenten, der gerade eine Mischung aus Damaskuserlebnis und nervösem Zusammmenbruch erlebte. »Warum tut ihr das? Soll das etwa Sozialismus sein?« Er bebte vor Angst und Wut, reckte ihnen den Parteiausweis entgegen. »Ist die Kontrolle von Kinos Sozialismus? Ist staatlich geschürte Furcht Sozialismus? Hätte Lenin das gewollt?«
    Dieser junge Mann hatte während jeder Diskussion, ob über die soziale Aufgabe der Literatur oder die Verwendung von Adjektiven in der Lyrik, straff die Parteilinie vertreten; hatte jedes Buch vor der Leküre zensiert, jeden Gedanken vor dem Denken abgeklopft. Und nun riskierte er seine Verhaftung, seinen Parteiausschluss, den Verlust seiner vorgezeichneten Karriere. Ich tippte ihm auf die Schulter. Anfangs erkannte er mich nicht, blinzelte, hielt mir seine Papiere hin. Ich brachte ihn nach draußen in Sicherheit.
    »Oleanu«, sagte ich, und mir wurde bewusst, dass ich seinen Vornamen nicht kannte, dass er zu jenen Leuten gehörte, die keinen zu haben schienen, die anderen Menschen nie nahe genug kamen, um ihn zu gebrauchen. »Sollen wir dich irgendwo absetzen?«
    Er starrte mich aus glasigen Augen an. »Er steht offenbar unter Schock«, sagte Ottilia. »Wer zum Teufel ist er? Und was soll dieser dämliche Anstecker?« Sie musterte die Nadel der Parteijugend, die er am Sakko trug, und führte ihn dann durch die Doppeltür ins Freie. Polizisten, die Hunde bei sich führten, scheuchten die Leute weiter. Wir luden Oleanu ins Auto, und Ottilia holte ihren Tsuica hervor. Sie setzte ihm die Flasche an die Lippen, und er schluckte automatisch, musste husten und wimmerte. Er sah aus dem Fenster des Autos. Danach schien er uns zum ersten Mal richtig wahrzunehmen.
    »Oleanu – Verzeihung, ich weiß nicht, wie du mit Vornamen heißt –, du scheinst gerade eine tiefe Glaubenskrise gehabt zu haben, und das in aller Öffentlichkeit«, sagte ich zu ihm.
    »Ja, das passiert, wenn man so blöd ist, einen Glauben zu haben«, bemerkte Ottilia ungewöhnlich zynisch. »Die meisten von uns haben diese Phase übersprungen.« Sie wich einer Herde von Einkaufswagen aus, die sich wie entlaufenes Vieh auf die Straße verirrt hatten. Die Schaufenster des Monocom waren eingeschlagen worden, man plünderte den Supermarkt vor den Augen der Polizei. Einige Türen weiter brannte es in einem staatlichen Buchladen.
    Leo, der vor dem arabischen Zentrum auf uns wartete, war angetrunken und gereizt und zeigte immer wieder ruckartig auf seine Armbanduhr. »Wisst ihr, wie spät es ist?« Als er die Hintertür aufriss, fragte er: »Was hat dieser junge Lenin hier zu suchen?«
    Wir beschwichtigten ihn, indem wir ihm

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