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Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)

Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)

Titel: Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick McGuinness
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gleichen grauen Wolkenfetzen, dem gleichen eisigen Wind, den gleichen Polizisten an den gleichen Orten an. Als der Scînteia -Verkäufer rief: »Lesen Sie alles darüber … Die Welt schaut staunend zu … Lesen Sie alles darüber!«, blieben wir wie angewurzelt stehen, warteten auf weitere Worte, versuchten, einen Blick auf die Schlagzeile zu erhaschen. Berichtete die Scînteia etwa über den Fall der Mauer? »Lesen Sie alles darüber!«, rief er sarkastisch: »Rumäniens neuer Traktor mit Erfolg auf der albanischen Argrarmesse vorgestellt.«
    Leo schnaubte und rollte zum Auto.
    »Na, Domnul ?«, fragte der Scînteia -Verkäufer. »Erst die Tschechen, jetzt die Deutschen … Wird nicht mehr lange dauern, bis sie hier auch ein paar richtige Nachrichten bringen.« Er nickte zur hohen Betonnadel der Casa Scînteia , einem Bau im sowjetischen Zuckerbäckerstil, in dem die Zeitung geschrieben, zensiert und gedruckt wurde.
    Leo widersprach. »Wäre ich der Genosse und müsste befürchten, dass mir mein abendlicher Kojak -Spaß durch den Zusammenbruch des ostdeutschen Sozialismus verdorben werden könnte, dann würde ich sicher nicht denken: Hm, vielleicht habe ich mich in diesem ganzen kommunistischen Kram getäuscht, vielleicht sollte ich noch einmal über die Ära des Lichts nachdenken, vielleicht brauchen wir dringend freie Wahlen … Einen Scheiß würde ich tun! Nein, ich würde die Daumenschrauben noch fester anziehen, ich würde noch härter, schneller, unbarmherziger durchgreifen. Darum sind die Todeswehen solcher Bastardregime immer die blutigste, schmutzigste, gefährlichste Phase. Was hat Ceaușescu letzte Woche gesagt? ›Stalin hat alles getan, was ein Mann in seiner Position hätte tun müssen.‹«
    Der vierzehnte Parteitag begann am ersten Dezember. Die Hotels waren voll mit Delegierten aus »befreundeten« Staaten. Die griechischen Kommunisten wohnten gemeinsam mit Franzosen, Serben und diversen westlichen neostalinistischen Fraktionen im Athénée-Palast. Das InterContinental wimmelte von Äthiopiern, Tansaniern, Angolanern und anderen Afrikanern, viele von ihnen in Konflikte verwickelt, deren Anlass längst vergessen war, wenn sie ihre Fehden mit Fäusten in Bars oder mit Spuckereien in halbdunklen Lobbys austrugen. Es ging um Grenzen, um den Luftraum, um Handelsembargos.
    Für den höchsten Pandar des Regimes, den Erzluden Ilie, war dies die anstrengendste Zeit des Jahres. Er stellte mit seiner Entourage die Versorgung mit Sex und Drogen sicher, zog ständig seine Kreise um die illustren Gäste, und die Bahnhöfe Bukarests quollen über von Mädchen aus den Dörfern, die man geholt hatte, um die Zahl der Sexarbeiterinnen zu verstärken. Während der Kongresse und Parteitage machte Ilie mehr Geld, als er sonst im ganzen Jahr verdiente, und er verwandelte Bukarest, wo sich nun Einheimische mit exotischen Ausländern paarten, in einen riesigen Ansteckungsherd für Geschlechtskrankheiten. Letztere waren das einzige, was man wirklich miteinander teilte.
    Doch die Stadt war wie tot. Hubschrauber flogen tagsüber Patrouille; nachts schwenkten ihre gleißenden Suchscheinwerfer über den Himmel, leuchteten die leeren Straßen aus. Was die Piloten sahen, war eine entvölkerte, kalte Stadt mit immer weiter wachsenden, Schießscheiben gleichenden Absperrungen, in deren Fadenkreuz die Parteizentrale lag.
    Der Frost hatte sich festgebissen. Am frühen Morgen war alles weiß bestäubt, die Bäume trugen Früchte aus Eiskristall. Der erste Schnee, ein schüchternes weißes Glitzern, hatte sich mittags in grauen, am Straßenrand schmelzenden Matsch verwandelt. »Das ist die Saat«, sagte der Scînteia -Verkäufer am Morgen der Parteitagseröffnung. Schneeflocken als Saatgut – die Alltagssprache blieb bodenständig, obwohl die Menschen, die sie verwendeten, entwurzelt und in Betonhütten umgesiedelt worden waren. Am nächsten Tag war diese Saat überall in der Stadt knöchelhoch aufgegangen. Auf der Piaţa Republica hatte man schon mit der Ernte begonnen, hinterließ einen Stoppel aus Streusalz und Kopfsteinplastersteinen.
    Am dritten Dezember veranstaltete die irakische Botschaft einen Empfang anlässlich der arabischen Übersetzung von Ceaușescus Sozialismus und wissenschaftliche Gesellschaft . »Die begehrteste Eintrittskarte der Stadt«, prahlte Leo und wedelte mit seiner Prägedruckkarte.
    Ottilia und ich setzten ihn ab und fuhren dann zum Palast des Lichts, in dem Buñuels Der diskrete Charme der Bourgeoisie

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