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Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)

Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)

Titel: Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick McGuinness
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zeigen, kühl gelagert im verschneiten Blumenkasten. »Weil ich möchte, dass du selbst entscheidest. Ich möchte, dass du alles gegeneinander abwägst und aufhörst, im Windschatten deines eigenen Lebens zu treiben.«
    »Du solltest einen Lebensratgeber schreiben.« Ich löste mich aus seinem Arm.
    »Habe ich schon. Und ich habe meine Leitlinien wortgetreu befolgt. Merkst du das nicht?« Leo legte in der Küche eine kleine Laufsteg-Drehung hin. Er hatte für diesen Abend ein Sakko in einem metallischen Fliederton ausgewählt, den ich nur von Spielzeugautos kannte.
    Er ließ den Korken knallen. »Timișoara brodelt wie ein Vulkan. Während wir im Capsia unser Schweinefleisch auf jüdische Art und Crêpes Suzettes essen, erschießt die Polizei vielleicht Menschen – das ist dann entweder eine blutige Fußnote der Geschichte oder der Beginn der Revolution. Der Zeitpunkt ist goldrichtig, um Entscheidungen zu treffen – nicht nur für dich, sondern für alle.« Er reichte mir ein Glas. »Für mich, für Ottilia und, wenn sie oben bleiben wollen, auch für Leute wie Cilea und Manea … Für alle, sogar für diese bedauernswerten, halb erfrorenen Trottel dort unten.« Er zeigte auf die Polizisten, die im Schnee von einem Fuß auf den anderen traten und an ihren Carpatis zogen, und prostete mir zu.
    Leo hielt vor dem Athénée-Palast, wo ihm einer der Portiers etwas übergab, das wie ein großer Marmeladentopf aussah, dann führte er mich hinein und bat mich zu warten. Ich sah ihm nach, als er in der viel zu hellen Lobby verschwand; im Schein der Strahler glänzte sein Sakko wie die Haut eines Reptils. Nach zehn Minuten kehrte er mit einer Tüte zurück, in der sich etwas regte. Ich warf einen Blick hinein: Hummer kämpften gegen Gummibänder, mit denen man ihre Scheren gefesselt hatte. »Für das Capsia«, erklärte er. »Heute Abend muss man die Vorspeisen selbst mitbringen. Die Straßen sind gesperrt, nichts kommt mehr durch.«
    Das Capsia war voller denn je. Fast alle Tische waren besetzt, die Kellner glitten über die dunkelblauen Teppiche, als hätten sie unsichtbare Räder unter den Schuhen.
    Der unerschütterlich an seinem Platz stehende Maître d’hôtel begrüßte uns und nahm Leo Tüte und Topf ab, der, wie ich feststellte, iranischen Kaviar enthielt. Irgendjemand aus dem Tross des Genossen schien in Teheran einen Einkaufsbummel gemacht zu haben. Als Leo nach der Empfehlung des Abends fragte, antwortete der Maître würdevoll und ohne jede Spur von Ironie: »Wir haben frischen Hummer, mein Herr.« Dann schaffte er seinen Fang in die Küche.
    Man führte uns in Leos bevorzugten Konferenzraum, inoffiziell »Labis-Zimmer« genannt, nach dem jungen Dissidenten und Dichter Nicolae Labis, der 1956 nach einer durchzechten Nacht und aufmüpfigen politischen Reden vor dem Capsia gestolpert und von einer Straßenbahn enthauptet worden war. Leo hatte extra um diesen Speisesaal gebeten.
    Dort beäugten sich Funktionäre und Parteibonzen, warfen verstohlene Blicke auf die Teller ihrer Sitznachbarn. Ein hoher Polizeibeamter saß mit drei Männern im Anzug, einem Dolmetscher und mehreren uniformierten Nordkoreanern zusammen, einige Araber tranken Fanta aus Flaschen, die in Eiskübeln steckten. An einem Tisch in der Nähe des Streichquartetts klopfte der Arbeitsminister die x-te verängstigte Minderjährige weich, die er nach dem Essen zu vernaschen gedachte. Ganz in der Nähe standen die Tische der Oberbonzen, verdeckt von Kalikowandschirmen und mit jeweils eigenem Kellner. Wie ich später erfuhr, saß dort unter anderem der Oberkommandierende der Armee, General Milea, der dabei war, seinen schwersten und letzten Fehler zu begehen.
    Im Labis-Zimmer war ein langer, ovaler Tisch im Stil des Fin de Siècle gedeckt. Im Kamin knisterte ein Feuer, der Rotwein atmete schon, die Käse schwitzten. Ozeray und Maltschew trafen zuerst ein, kurz darauf Professor Ionescu mit Frau sowie Rodica, die ohne Mann erschienen war.
    Bald darauf kam auch Ottilia. Sie küsste mich auf die Wange und flüsterte mir ins Ohr: »Sieht schlimm aus – Leichen treffen aus Timișoara ein. Dutzende … bisher. Campanu sagt, dass man sie im Leichenschauhaus ablädt, in den Öfen stapelt und verbrennt …«
    Leo klopfte dreimal gegen sein Glas.
    »Freunde! Ich danke euch für euer Kommen. Wie die meisten von euch wissen, sind dies meine letzten Tage. Meine letzten paar Tage in dieser Ära des Lichts, im Schein der letzten paar Strahlen … Ah , höre ich euch

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