Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)
der unmerklich nickte. Das war das Zeichen für Maltschew. »Ich habe vor einigen Minuten erfahren, dass in Timișoara ein Massenaufstand ausgebrochen ist, der sich immer weiter ausbreitet. Laut unbestätigten Gerüchten hat es sehr viele Tote gegeben. Die Sicherheitskräfte töten gezielt. Zeugen berichten von scharfer Munition, Panzern und Tränengas. Dies ist eine blutige Nacht.«
Leo stand rechts neben Maltschew, in der einen Hand ein Glas, in der anderen eine Flasche. Speisen und Getränke standen unangetastet auf dem Tisch. Ich spürte, wie sich im Raum Furcht und Besorgnis ausbreiteten, aber auch Wut und so etwas wie Verzweiflung – das Gefühl, dass etwas Entscheidendes bevorstand.
Ottilia erhob sich vom Tisch. »Ich habe vorhin mit Campanu gesprochen. Er hat berichtet, das man Dutzende Tote in das Leichenschauhaus gebracht hat. Weitere werden folgen. Die meisten wurden erschossen, aber er hat auch Folterspuren bemerkt … Sie sollen heute Nacht eingeäschert werden …«
Dann wieder Maltschew: »Die Sache kommt in Schwung: Arad, Sânnicolau, Mare, Oradea – überall Demonstrationen gegen Ceaușescu. In Brasov hat eine Gruppe, die sich Neuer Arbeiterrat nennt, einen Generalstreik ausgerufen. Man hat die Anführer verhaftet, aber der Streik geht weiter. Die Unruhen breiten sich im ganzen Land aus.«
Trofim schenkte sich gelassen einen Drink ein, trat neben Maltschew und sagte: »Der Präsident hält sich noch im Iran auf, wird seinen Besuch aber vorzeitig abbrechen und morgen nach Bukarest zurückkehren. Er glaubt nicht, dass sich die Demonstrationen gegen ihn richten. Man hat ihm weisgemacht, dass gegen Nahrungsmittelknappheit und für höhere Löhne gestreikt werde, und er glaubt, den Konflikt entschärfen zu können. Wir werden sehen. Erst einmal ist Elena am Ruder, und die Sicherheitsbehörden halten sich bei der Aufstandsbekämpfung an ihre Befehle. Wie diese lauten, wissen wir ja inzwischen.«
»Futtert General Milea deshalb im Nebenraum Wachteln?«, fragte Leo. »Hat man ihn gefeuert? Weiß das fette Schwein überhaupt, was los ist?«
»Ich bin mir nicht sicher, ob der General derzeit Herr über sein Schicksal ist«, antwortete Trofim ausweichend. »Aber man begreift allmählich, dass das, was Ceaușescu diesem Land antut, nicht im Namen der Partei geschieht. Außerdem glaube ich nicht, dass die Partei als Ganzes hinter dieser brutalen Niederschlagung steht.« Er drehte sich zu Maltschew um, der bestätigend nickte.
Ich wusste, was Trofim meinte. Ich war vorhin mitten in eine Krisensitzung geplatzt, zu der sich Dissidenten wie er und hohe Parteikader wie Manea Constantin versammelt hatten: die Nationale Rettungsfront. Alle, die hier im Labis-Zimmer anwesend waren, begriffen das sofort, weil sie besser zwischen den Zeilen lesen konnten als ich. Ozeray setzte diplomatisch sein Glas an die Lippen, um seine Reaktion zu verbergen. Ionescu lächelte, weil er hoffte, seine Professur zurückzuerhalten – angesichts des Unrechts, das ihm widerfahren war, würde er dann fester im Sattel sitzen als je zuvor. Die Technische Hochschule in Turda würde sowieso bald einen neuen Schwung Hausmeister bekommen.
Obwohl die Bedeutung von Trofims Worten allen bewusst war, hakte nur Leo nach. » Die Partei … Sie wollen sagen, dass die Ratten das sinkende Schiff verlassen, nicht wahr, Genosse? Aber man wird nur die Decks reinigen lassen – warum fallen mir immer diese nautischen Metaphern ein, verflucht? –, sich anderswo neu organisieren und danach weitermachen wie gehabt.«
»Ein solcher Plan ist mir unbekannt, Leo.« Trofim streifte mich mit einem Blick. »Ich spreche hier als Privatmann. Wie Sie wissen, ist meine Macht begrenzt, und …«
»Das glaube ich keine Sekunde, Sergiu, aber wenn es die Sache für Sie vereinfacht, halte ich den Mund. Sicher ist, dass alle Parteibonzen in das System investiert haben. Wie lautet das alte rumänische Sprichwort? Ein neues Bordell, aber die alten Huren. «
»Was Sie da andeuten, entbehrt jeder Grundlage, Leo. Ich weiß nichts von irgendwelchen Plänen. Ich bin, wie man so schön sagt, ›aus dem Spiel‹. Ich habe mir nur erlaubt, ein wenig zu mutmaßen …«
Leo schnitt ihm das Wort ab. »Halten Sie uns für so dumm? Sie stehen eigentlich unter Hausarrest. Trotzdem sind Sie hier, und Sie haben nicht einmal als UN-Botschafter so viel Aufmerksamkeit erhalten! Und was sagt uns das? Im ganzen Land erheben sich Menschen und werden erschossen, die Armee ist in
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