Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)
Alarmbereitschaft, im Schutz der Dunkelheit werden Truppen herangeführt … aber Sergiu Trofim hat auf einmal carte blanche , um seine alten Kumpel im Capsia zu treffen, und den ganzen Tag stehen schwarze Dacias vor seiner Wohnung Schlange … ›Aus dem Spiel‹, was?«
»Hör auf, Leo!«, mahnte Maltschew.
»Und was unseren Sergej Maltschew betrifft, tja, da haben die Historiker später eine harte Nuss zu knacken – ich nehme an, Genosse Maltschew weiß nicht, dass russische ›Touristen‹ seit kurzem nach Timișoara, Cluj und Brasov strömen? Ganz Bukarest ist von Russkis verstopft. Was tun sie hier? Kaufen sie Weihnachtsgeschenke?« Während der letzten zwei Wochen war die Zahl russischer Besucher in rumänischen Kleinstädten und Großstädten tatsächlich sprunghaft angestiegen. Junge, allein reisende Männer mit Auto, Kamera und vielen Dollar, die nicht sehr touristisch wirkten.
Ozeray trat vor. »Genug gemutmaßt. Wir haben uns heute Abend anlässlich von Leos Abreise versammelt, der Abreise eines guten Freundes, der uns bestens unterhalten, manchmal in Gefahr gebracht, immer gut versorgt hat.« Leo hob ergeben die Hände und bat Trofim und die anderen mit einem Wink zu Tisch. Maltschew grollte immer noch, ging jedoch über Leos Spitzen hinweg.
Ottilia ergriff mich beim Arm und flüsterte: »Ich ertrage das nicht mehr. Ich will nach Hause.«
Ich versuchte Leos Blick aufzufangen, aber er war mitten im Getümmel, schüttelte Hände und stieß an, klingelte nach den Kellnern. Ottilia und ich verschwanden, als der erste Gang gebracht wurde: Hummer Thermidor. Am Tisch war das Erstaunen groß, als man die Krustentiere heranrollte, und ich hörte noch, wie Leo damit prahlte, sie selbst gefangen zu haben.
Der Maître lüpfte diskret, aber überrascht eine Augenbraue, als er uns die Tür aufhielt. Er bot an, ein Schwarzmarkttaxi zu rufen, doch wir lehnten ab.
Das erwies sich als Fehler. Die staatlichen Taxis fuhren nicht, ebenso wenig die Busse. Also machten wir uns auf den langen Heimweg durch den Schnee. Einige schwarze Dacias parkten gerade so weit entfernt vom Capsia, dass sie nicht zu warten schienen.
»Ob Leo sauer ist?«, fragte Ottilia, als wir über den Kreisverkehr auf der Piaţa Republica gingen. »Immerhin ist es sein Abschiedsessen. Wir dürften nicht fehlen.«
»Leo hat zwar ein Ticket, aber das heißt noch gar nichts. Man wird ihn zum Flughafen schleifen müssen. Außerdem glaubt er, dass er davonkommt … Du kennst ihn – er findet immer ein Schlupfloch. Ich wäre nicht überrascht, wenn zu Hause ein Brief von Ceaușescu höchstpersönlich auf ihn wartet, der es ihm erlaubt, in Rumänien zu bleiben.«
»Glaubt er tatsächlich, dass sich bis morgen Nachmittag alles ändert?«
»Schwer zu sagen. Vielleicht blufft er nur. Aber er wird morgen ganz sicher nicht abfliegen.«
»Und du?«
»Was soll mit mir sein?«
»In welches Flugzeug wirst du steigen?«
»In dasselbe wie du, hoffe ich. Leo besorgt dir einen Pass. Er wird rechtzeitig fertig sein.«
»Das haben wir doch schon diskutiert …«
»Nein, haben wir nicht. Du hast gesagt, dass du nicht gehen willst. Aber das war keine Diskussion .«
Vor dem Atheneum stoppte uns ein Polizist. Ottilia wirkte erleichtert bei seinem Anblick. Er leuchtete uns mit der Taschenlampe ins Gesicht, prüfte unsere Ausweise, notierte die Daten und zog Ottilias Papiere ein. Der Schnee fiel in Flocken, dick wie Löschpapier. »Kommen Sie morgen zwischen acht und neun Uhr zum Polizeihauptquartier. Dort wird man Ihnen die Papiere wieder aushändigen.« Ich konnte ihm ansehen, dass er schrie, aber wegen Schneefall und Wind hörten wir nur ein Flüstern.
Zu Hause waren Strom und Gas abgestellt, und es war so kalt und dunkel, als wären diese Räume nie bewohnt gewesen. Ich entzündete eine Kerze, dann tasteten wir uns in das Wohnzimmer, wo ich eine kleine Butangasheizung in Gang setzte. Sie verströmte so viel Licht, dass wir einander sehen konnten. Immerhin hatte das Radio Batterien – wir konnten Nachrichten hören –, aber als ich einschalten wollte, ergriff Ottilia mein Handgelenk.
»Bitte nicht. Ich möchte nichts mehr hören, keine weiteren Gerüchte, keine weiteren Mutmaßungen. Ich will gar nicht wissen, was sich abspielt …« Ich folgte ihr mit der Gasheizung in das Schlafzimmer, stellte sie neben das Bett. Wir zogen uns in der Eiseskälte aus, schliefen im Dunkeln miteinander, lagen eng umschlungen da, bis das Gas alle war und der Schweiß auf
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