Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)
geschleuderter Stein traf die Windschutzscheibe und die Scherben prasselten spektakulär auf den Bürgersteig. In der Verwirrung, die entstand, konnte sich der Scînteia -Verkäufer entwinden, in die Menschenmenge fliehen und in einer Seitenstraße untertauchen. Drei Polizisten ließen ihn ungehindert durch. Ich sah noch, wie er um die Ecke bog. Im nächsten Moment waren auch die Polizisten verschwunden, überließen das Feld der Securitate und ihren Zivilbeamten.
Hier kochte der Volkszorn. Die Pragmatiker zerschlugen die Scheiben und plünderten den Laden, rannten mit Fleischbatzen davon, die in bluttriefende Zeitungen gewickelt waren. Die Idealisten wandten sich gegen die Securitate-Agenten, deren Hand zur Pistole zuckte, während sie ihre Möglichkeiten abwogen. Die Menge drängte weiter; Steine knallten gegen den Transporter, zerstörten die restlichen Scheiben. Der Abstand zwischen beiden Parteien betrug nur noch zehn Meter, als ein zweiter schwarzer Dacia mit offenen Türen in die Schneise brauste, um die Agenten einzusammeln. Während sie hinten in das Auto sprangen, stieg auf der Beifahrerseite ein Mann aus. Er trug Pelzmütze und Sonnenbrille, sah sich gelassen um. Seine Kameraden brüllten, er solle einsteigen, doch er nahm alles genau in sich auf, ließ den Blick auf jedem Gesicht verweilen. Die Menge spürte seine Kälte und Autorität. Die erste Reihe zauderte und wich zurück, der Vormarsch stockte. Die Menschen starrten sein Gesicht an, aus dem nicht die geringste Furcht sprach.
Noch bevor dieser Mann Mütze und Brille abnahm, wusste ich, dass es Vintul war. Und etwas in seiner Ausstrahlung verriet, dass dies sein wahres Äußeres war: blonde, kurze Haare, hellgrüne Augen, bleiche Haut. Keine Verkleidungen mehr. Er fuhr sich mit einer Hand durch das Haar, ein Reflex aus seiner Zeit als V-Mann. Während er die Sonnenbrille zusammenklappte und einsteckte, ließ er seinen eiskalten Blick über uns schweifen. Er sah mich drei Mal an. Vielleicht erkannte er mich nicht wieder. Ich atmete aus. Vielleicht hatte er mich vergessen. Er sprach in ein Walkie-Talkie und öffnete die Tür des Transporters, ohne eine Antwort abzuwarten. Kurz bevor er einstieg, hielt er inne, drehte sich noch einmal um und sah mir direkt ins Gesicht. Er zog die Tür mit der rechten Hand vor den Körper, formte die linke zur Pistole. Er kniff ein Auge zu, zielte auf mich, riss den Zeigefinger hoch und lächelte. Ein Schuss. Er war nicht der Typ, der Munition vergeudete, nicht einmal eingebildete.
Er klopfte oben auf das Auto und schwang sich hinein, während es anfuhr.
Sehr unwahrscheinlich, dass ich den Zeitungsverkäufer morgen zu Gesicht bekommen würde. Wohin wandten sich die Menschen, nachdem sie der Securitate die Stirn geboten hatten? Wo konnten sie sich verstecken? Wie lange konnten sie davonlaufen? Die Polizisten kamen wieder angekrochen, untersuchten die beschädigte Ladenfront: kaputte Scheiben, eingeschlagene Türpanele, im Schnee das Blut vom Fleisch der Tiere. Sie begannen aufzuräumen. Passanten kamen und bejubelten sie, weil sie der Securitate nicht geholfen hatten. So entstand ein Gerücht, das ich abends wieder hören sollte, ausgeschmückt durch Phantasie, Alkohol, Wunschdenken: Die Polizei habe sich der Securitate entgegengestellt und den Protestierenden so zur Flucht verholfen …
Kurz vor siebzehn Uhr stand ich vor den Geschäftsräumen der TAROM. Wenn ich das Ticket für den Heimflug buchen wollte, musste ich es jetzt tun. Vielleicht war es schon zu spät. Es hatten sich lange Schlangen gebildet. Die meisten wohlhabenden Ausländer hatten ihre Ausreise bereits organisiert: Botschaftsangehörige, Verkäufer von Rüstungstechnik, Vertreter für Überwachungstechnik und Ausrüstung zur Aufstandsbekämpfung, die sie bald in Aktion erleben würden. Übrig waren nur noch Studenten, junge Familien, die hier billig und spartanisch Urlaub machten, und Osteuropäer aus bald ehemals kommunistischen Staaten, die vor Weihnachten zu ihren unblutigen Revolutionen heimkehren wollten. Ich stellte mich an, tastete nach meinem Pass, fuhr mit den Fingern über die Ränder und Ecken.
Acht Schalter waren offen, aber an sechs davon blätterten die Angestellten in der Zeitung, rauchten oder kauten an den Fingernägeln. Die übliche Mischung aus Panik und Trägheit. An den Wänden hingen Karten von Rumänien, Bilder von Kirchen, Stränden und volkstümlichen Chören, ausgeblichen, mit Eselsohren. Wie viele Kirchen standen noch, wie
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