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Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)

Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)

Titel: Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick McGuinness
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unserer Haut gefror. Dann standen wir auf, zogen uns an, als wollten wir zur Arbeit, und gingen wieder zu Bett.
    In dieser Nacht veröffentlichte die Nationale Rettungsfront ihre erste Erklärung. Gegen Morgen lag Radio Moskau und Radio Free Europe eine Abschrift vor. In dieser Erklärung konstituierte sich die Rettungsfront als demokratische Partei, forderte den Rücktritt Ceaușescus oder seine Absetzung durch die Kommunistische Partei und solidarisierte sich mit den Aufständischen in Timișoara und anderen Orten. Aus Timișoara wurden Hunderte von Toten gemeldet. Die Arbeiter der Petrochemiefabrik in Timis hatten der Armee ein Ultimatum gestellt: Schlagt euch auf unsere Seite oder zieht ab; sonst jagen wir die Fabrik und damit weite Teile der Stadt in die Luft.
    Ottilia und ich saßen den ganzen Vormittag vor dem Radio, ohne einen Gedanken an Leo zu verschwenden. Irgendwann stand er unrasiert und im Pyjama in der Tür. Ich wollte mich dafür entschuldigen, dass wir so früh weggegangen waren, aber er winkte lächelnd ab.
    »Der Genosse ist zurück«, teilte er uns mit.
    Am einundzwanzigsten Dezember lag in Bukarest ein seltsam unzeitlicher Frühlingshauch in der Luft. Die Sonne schien, der Verkehr war dicht, die Läden waren geöffnet, Restaurants und Cafés, die eben noch Winterschlaf gehalten hatten, waren plötzlich in Betrieb und voller Gäste. Wir tranken morgens im Atheneum echten Kaffee, keinen Ersatz; über Nacht hatte man Butter, Mehl und Fleisch in die Geschäfte geliefert. Die Tankstellen hatten wieder Benzin, und der Abgasmief kehrte ebenso plötzlich zurück, wie er verflogen war.
    Die Stadt war eine brodelnde Gerüchteküche. In Timișoara habe sich die Polizei gegen die Armee gewandt; die Armee gegen die Polizei; beide gegen die Securitate. Man habe General Milea zum Palast befohlen und verhaftet. In Alba Iulia hätten Demonstranten die Parteizentrale gestürmt, die Polizei habe sie gewähren lassen. In Timișoara gebe es immer mehr Opfer. Die internationale Presse wusste nur von wenigen Toten zu berichten, aber man munkelte, dass ihre Zahl in die Tausende ging. Man tuschelte über Lynchmorde: Securitate-Agenten, in Maramures, Craiova, Targoviste an Laternenpfählen aufgeknüpft. In Sibiu, dem Lehen Nicu Ceaușescus, hätten sich abtrünnige Parteifunktionäre zu Unterstützern der Nationalen Rettungsfront erklärt; sie seien erst verhaftet, dann freigelassen worden. Die Parteizentrale in Sibiu sei niedergebrannt worden. Was Nicu selbst betraf, so wurde erzählt, dass er im vollgekoksten Zustand eigenhändig Menschen erschieße, dass er sich den Demonstranten ergeben habe, in Frankreich herumhure. All das lag im Bereich des Möglichen, aber ironischerweise traf das unwahrscheinlichste Gerücht zu, demgemäß ein mutiger Richter in seiner Heimatprovinz einen Haftbefehl wegen Vergewaltigung gegen Nicu erlassen hatte.
    An der Universität war die Stimmung noch fiebriger. Studenten rotteten sich zusammen, um Pläne zu schmieden, und die Polizisten trieben sie nur halbherzig auseinander. Man hatte die Wände in den Fluren mit Zeichnungen von Gorbatschow als Weihnachtsmann verziert. Daneben sah man ein großes Geschenk mit Schleife und dem Umriss Rumäniens. Man hatte in weißen Lettern TIMIȘOARA auf die Außenfassade und das Kopfsteinplaster des Innenhofes gepinselt. Ich kam am Kopierraum vorbei, der sonst immer zu war. Nun wachte Rodica vor der offenen Tür, während Iulia, eine unserer Studentinnen, die erste Seite der aktuellen Ausgabe der Herald Tribune Hunderte Male kopierte. Die Schlagzeile lautete: »Massaker in Timișoara«, darunter hieß es: »Wachsende Angst vor neuem Tiananmen: Tausende Tote«. »Ist das wahr?«, fragte ich und zeigte auf das Wort Tausende . Sie antwortete: »Wahr, falsch – egal. Wichtig ist nur, dass die Menschen davon erfahren.« Ihre Schulung in Dialektik war offensichtlich nicht umsonst gewesen.
    Ich war als einziger zur Arbeit erschienen und beschäftigte mich mit Belanglosigkeiten. So konnte ich mir einreden, den Job zu behalten, am fünften Januar noch hier zu sein. Ich warf kleine Anker in die Zukunft aus – da eine Sitzung, dort eine Verabredung –, trug für den Januar Termine in meinem Kalender ein. Ich schaute auf den Platz der Universität, vielleicht zum letzten Mal. Dies war Belangers Aussicht, sein Stuhl, sein Büro. Sogar seine Handschrift: Als ich den Zettel mit Cileas Telefonnummer glatt strich, fragte ich mich, ob Belanger gerade die Herald Tribune

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