Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)
den Fernseher aus und schenkte mir nach. »Hätte ich gewusst, dass Sie ein Freund von Leo sind – Sie hatten natürlich keinen Anlass, darauf hinzuweisen –, dann hätte ich Ihnen sofort Geld beschafft und Sie gestern in ein Flugzeug gesetzt. Dann hätten Sie Weihnachten zu Hause feiern können.« Phillimore zeigte mit einem Cracker auf mich.
»Sie kennen Leo?« Der Cracker zerbrach, und ich erschrak bei dem leisen Knall.
»Schon seit Jahren. Wir haben uns allerdings eine ganze Weile nicht mehr gesehen. Ich habe hier für ihn immer die Augen offen gehalten – Papierkram, Visa, Exporterlaubnisse, Sie wissen schon … Alles auf unterer Ebene, aber natürlich korrupt.« Er lächelte düster, hob den Becher. »Ich fürchte, Sie sind mein einziger Weihnachtsgast, aber es gibt jede Menge zu essen und zu trinken. Ich habe keine Pläne – bis auf die Rede der Königin um sechzehn Uhr und den Umtrunk für Botschaftsangestellte heute Abend. Sie können gern daran teilnehmen, wenn Sie möchten …«
Phillimore war angenehme Gesellschaft. Er strahlte die unaufdringliche Betrübtheit jener aus, die aus eigener Entscheidung einsam sind. Seine bloße Gegenwart war erleichternd und befreiend. »Leo hat Sie also angerufen?«, fragte ich.
»Gestern, am späten Abend. Mit einem tragbaren Telefon. Schreckliche Verbindung. Er bat mich, ein Auge auf Sie zu haben, und ich erwiderte, dass Sie schon bei mir gewesen seien. Ich soll Ihnen ausrichten, dass alles in bester Ordnung ist, dass es ihnen gutgeht. Außerdem hat er mich gebeten, Ihnen mit Geld auszuhelfen. Ich musste ihm auch versprechen, Ihnen zu sagen, dass Sie nach Bukarest zurückkehren sollen, aber damit würde ich gegen die Reisewarnung des Außenministeriums verstoßen. Hier – nehmen Sie diese dreihundert Dollar. Das ist mehr als genug für die Rückfahrt. Wohin Sie fahren, liegt natürlich ganz bei Ihnen. Nehmen Sie das Geld. Ich regele das später mit Leo.«
Während wir die Rede der Königin hörten, aßen wir Gänsebraten mit Buchweizenfüllung und tranken kroatischen Wein.
Für die Ceaușescus währte Weihnachten nicht sehr lange, denn sie wurden am nächsten Morgen an die Wand gestellt, erhielten mit einer Pistole den Gnadenschuss.
Gegen siebzehn Uhr schauten Phillimore und ich Aufnahmen des Prozesses im Fernsehen.
Man sieht nur die Ceaușescus, in einem Bunker in Targoviste an einem kleinen Tisch sitzend. Sie waren trotzig bis zuletzt, und ihre kleinen Eigenarten waren anrührend. Es sind immer diese Details, die sich dem Gedächtnis einprägen, was vielleicht daran liegt, dass sie einem die Dimension des Todes bewusstmachen und diesen zugleich für einen kurzen Moment in die Schranken zu weisen scheinen: wie sie den Mantel zuknöpft und entschlossen das Kinn reckt; wie er ihre Hand streichelt, über sein Haar fährt, die Brust nach vorn schiebt. Täuscht mich meine Erinnerung, oder schlang sie ihm kurz vor der Hinrichtung tatsächlich noch einen Schal um den Hals? Sie ist verwirrt und verängstigt, rafft sich aber zu einem verrückten Trotz auf. Auf die Frage, wie alt sie sei, antwortet sie: »Man fragt eine Dame nicht nach ihrem Alter.« Und das eine halbe Stunde vor der Exekution.
In jedem Prozess gegen Diktatoren gibt es solche Momente unerwarteter Würde oder Geziertheit, die die in uns entfachte Mordlust ins Wanken bringt. Was sagt er gerade? Es gibt Untertitel, aber der verzweifelte Ton zeugt von einem Kampf auf Leben und Tod: »Ich bin der Präsident …«, »Ich erkenne dieses Banditengericht nicht an …«, »Ich werde mich vor dem Volk verantworten, und nur vor dem Volk …« Sie: »Wir haben Sie zu dem gemacht, was Sie sind. Wir haben Sie gefördert. Und das ist Ihr Dank?«, »Das ist doch alles Unsinn: Das rumänische Volk liebt uns und wird diesen Putsch nicht hinnehmen.« Tapferkeit? Oder nur eine Verblendung, die nicht einmal die Realität korrigieren kann, der letzte Ton einer Symphonie, in der Stille schwebend, die ihn gleich verschlucken wird?
Man befindet sie in zahlreichen Punkten für schuldig, angefangen damit, dass sie ihr Volk verhungern ließen, bis zum Besitz zu vieler Schuhe. An einem Punkt muss der Staatsanwalt den Verteidiger zügeln, weil dieser seine Mandanten lautstark beschimpft. Die Ankläger werden nicht gezeigt, und wenn Nicolae oder Elena ihre Namen nennen, werden diese in den Untertiteln ausgeblendet. Ich meine, Maneas Stimme zu erkennen, aber als die Namen der Ankläger schließlich veröffentlicht werden, ist
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