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Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)

Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)

Titel: Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick McGuinness
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Prozession einer Kirchweihe.«
    »Sie proben die Parade für den Ersten Mai.«
    »Kein Scheiß? Besten Dank für die Information. Da bist du erst ein paar Wochen hier und klärst den alten Leo schon auf.« Er schenkte sich einen Scotch ein. »Mit dieser Art von Insiderwissen bekommst du einen Job in der Führungsriege des rumänischen Außenministeriums. Tag der Arbeit, was?«
    »Halt die Klappe. Zieh dir etwas an und gib mir meinen Bademantel zurück.« Mein Blick fiel erst auf ihn, dann auf den Mantel, und mir wurde bewusst, dass Leo in ein Kleidungsstück furzte, das ich noch tragen würde. »Ach was. Behalt ihn an. Ich wasche mich.« Als nächstes fiel mir ein, dass ich noch nichts im Magen hatte. Als ich daran dachte, wozu Leo in der Küche imstande war, lief mir ein Schauder über den Rücken. Ich schlug vor, in ein Restaurant zu gehen.
    »Alles schon in Vorbereitung, Genosse. Du hast die Aufgabe, den Aperitif zu öffnen. Wir essen in einer guten Stunde.«
    Ich dachte an das gemeinsame Abendessen mit Cilea in einer glücklicheren Parallelwelt: Ein Diner mit Kerzen und Wein in einem teuren Restaurant, danach eine flotte Fahrt in ihrem Dacia zu ihrer Wohnung und direkt in ihr Bett, das durch meine Anwesenheit plötzlich vervollständigt wurde.
    Ich ging duschen. Der Boden im Bad war klitschnass, mein einziges Handtuch als Fußmatte benutzt worden. Die Seife war voller Schamhaare, und auf den Fliesen ringelte sich ein durchweichtes, verfärbtes Hühneraugenpflaster. Leo hatte den World Service im Wohnzimmer so laut gestellt, dass ich das Klappern des Radiogehäuses bis ins Bad hörte.
    In einer Rede, die als weiterer Beweis für die Perestroika gewertet wird, hat der russische Staatspräsident Michail Gorbatschow für die begrenzte Liberalisierung des Handels und für Meinungsfreiheit in der Sowjetunion plädiert und seine Bereitschaft angedeutet, russische Truppen aus den Ostblockländern abzuziehen. Währenddessen haben wilde Streiks in Polen zur Verhängung des Ausnahmezustands in mehreren Städten geführt. Lech Wałęsa, Führer der Solidarność …
    »Die Sache läuft. Sie läuft«, rief Leo. »Hörst du mich? Mach dich darauf gefasst. Angeblich wird sich hier nichts tun, aber das ist ein Irrtum. Du wirst schon sehen … He! Hörst du mir überhaupt zu?«
    »Ja, ja! Ich höre jedes Wort, Leo, jedes Wort.« Ich knallte die Tür zu.
    Ich dämmerte auf dem Bett, ließ mich von der Luft trocknen, schrak aber auf, als an der Tür geklingelt wurde. Leo führte den Besucher in die Küche: Es war der Maître d’hôtel aus dem Capsia. Er hatte zwei Koffer dabei und stopfte ein paar harte Devisen in seine Gesäßtasche. Leo hatte sich angezogen und rasiert, aber seine Rasur war wie immer ein Pyrrhussieg – blutige Klopapierschnipsel klebten auf Kinn und Wangen.
    »Wir lassen uns heute zu Hause bekochen«, erklärte er. »Im Stil des Capsia. Ich habe Dumitru angeheuert – aber keine Sorge, es ist eines seiner mittelpreisigen Menüs: Consommé, mit Oliven gefülltes Rindfleisch und Crêpes Suzette. Schau nicht so mürrisch und abgeschlafft, sondern stell dich auf pures Vergnügen ein.« Er warf mir den Korkenzieher zu und zeigte auf ein Flaschenspalier.
    Der Maître wickelte in der Küche zwei Fleischstücke aus. Sie waren in eine Doppelseite der Scînteia verpackt, auf der noch ein Foto der Ceaușescus zu sehen war, beide in traditioneller Tracht auf einem Berghang, wo sie sich von Bauern huldigen ließen. Der Maître schnitt das blutige, glitschige Rindfleisch der Länge nach auf, füllte es mit Oliven, Reis und gehackten Zwiebeln und band es wieder zusammen. Der Schwarzmarkt für Fleisch erforderte es, schwarz zu schlachten, und so waren an ganz unerwarteten Orten provisorische Schlachthäuser entstanden, in Hinterzimmern von Restaurants, in Kellern und sogar in den zwei städtischen Leichenschauhäusern, denn die Ausrüstung ist dort schon vorhanden , wie Leo erklärte. In den Läden konnte man bestenfalls anhand des Geruchs abschätzen, wie lange das Fleisch unterwegs gewesen war. Wir wussten trotz der fragwürdigen Hygiene immerhin, dass es sich um frisches handelte.
    Das Essen schmeckte köstlich, obwohl ich seine Zubereitung mit wachsender Übelkeit verfolgt hatte, und wurde mit fast surrealer Professionalität serviert. Der Mann aus dem Capsia, jetzt im dunklen Anzug samt Krawatte, servierte die Suppe in einer Silberterrine, schenkte den Wein aus einer Flasche ein, die eine Serviette um den Hals trug und

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