Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)
danach saß sie fest. Sie hatte kein Geld und bewohnte zwei Zimmer im Hotel particulier , einst im Besitz ihrer Familie, nun Arbeiterunterkunft. Sie suchte an jedem Mittwochmorgen die französische Botschaft auf, um dort einen Kaffee zu trinken, Croissants zu essen und das diplomatische Geschick der Diplomaten mit Anekdoten aus dem Paris der dreißiger Jahre und Berichten über die Kultur der rumänischen Emigranten auf die Probe zu stellen. Danach begab sie sich zum Konsulat, wo sie sich erkundigte, ob ihr Visum endlich eingetroffen sei. Das Visum, im Inneren eines erstarrten Ministeriums steckengeblieben, war tatsächlich in Bearbeitung – die amtliche Bezeichnung dafür lautete »aktiv« –, und das schon seit fast zwanzig Jahren. Auf dem Heimweg ging sie jedes Mal an der Patisserie in der Calea Victoriei vorbei, deren Inhaber aus Mitleid immer eine mit hübschen Schleifen drapierte Schachtel mit den Leckereien vom Vortag für sie bereithielt.
Zu den Veranstaltungen der Botschaft, für die sie stets eine Einladung erhielt, erschien sie in all ihrer verhärmten Pracht – im Sommer mit abscheulichen Federboas, während des restlichen Jahres in einem Jackenkleid von Dior aus den Vierzigern oder in haarenden Pelzen. Ihr einst prachtvoller Nerz glich der schlaffen Haut eines streunenden Hundes. Französische Botschafter und Kulturattachés besuchten sie immer noch, wenn auch seltener – sie wollte nicht von ihnen lassen, umschloss ihre Hände viel zu lange mit ihren dürren Fingern, bedrängte sie mit verzweifelten Höflichkeiten. Allen anderen gegenüber spielte sie die herrschaftliche, erzkonservative mitteleuropäische Aristokratin. Dazu ihr Gefolge aus ultraorthodoxen Spukgestalten und monarchistischen Schwärmern, alle unbezahlt, alle versessen darauf, sich in ihrer Verachtung zu sonnen. Sie veranstaltete anlässlich des Geburtstags des Königs jedes Jahr ein Fest, das die Behörden als Folklore einstuften und dementsprechend lax überwachten: Handküsse, Knickse, sich bekreuzigen. Das Telegramm des im Exil lebenden Königs Michael wurde ihr auf dem Umweg über die Ambassade de France zugeleitet, feierlich verlesen und mit Gebeten beschlossen. Ihre Wohnung war ein Hort der Ikonen und des dampfenden Tees, des Weihrauchs und der alten Bücher. In ihren Augen war sogar das Capsia-Französisch zu ordinär. Ihr Französisch war umständlich, barock, förmlich, sozusagen ein Louis-Philippe-Stuhl der Sprachen – zerbrechlich, überladen, inhaltsleer.
In Paris war sie La Princesse Antoinette Marthe Cantesco gewesen. Hier war sie die Bürgerin Antoaneta Cantescu, aber auch die einzige Person in unserem Bekanntenkreis, die eine Dienerin hatte – besser gesagt: jemanden, die offiziell als solche vorgesehen war, denn der Spielarten des Dienens gab es viele. Ihre Dienerin, eine Dame fast so alt wie sie selbst und einer Familie entstammend, die über Generationen für die Cantescus tätig gewesen war, bewohnte ein Zimmer im Keller des Gebäudes. Diese Dienstfrau wirkte immer dann am glücklichsten, wenn ihre Herrin ihre Haltung kritisierte, sie wegen ihrer Hässlichkeit geißelte oder ihre Kochkünste bemäkelte. Die Seligkeit, die sie ausstrahlte, wenn sie von la Princesse wieder einmal als faul beschimpft wurde, war der einzige Ausdruck vollkommener spiritueller Entrückung, dessen Zeuge ich je geworden bin.
Wir besuchten die Prinzessin, wie man Ruinen besucht; und wie alle Ruinen hatte auch sie etwas Ewiges, etwas von der Unzerstörbarkeit des längst Geschleiften. Sie war arm und gebrochen und führte ein anachronistisches Leben, gab aber nie zu erkennen, dass ihr dies bewusst war, dass jede wache Minute ihres Daseins einen Triumph der unbeirrbaren Phantasie über die Realität darstellte. Sie teilte ihren Irrsinn mit ihren Hofschranzen, die sich wiederum darauf verließen, dass sie die Illusion und damit auch sie selbst stützte. Leo war es, der ihr im Mai dieses Jahres endlich das Visum beschaffte. Er schmeichelte, schmierte und forderte Gefallen ein, bis es da war, gestempelt und datiert und fertig für den Zoll. Leo war es auch, der ihren Air-France-Flug nach Paris bezahlte – ohne Rückflugticket.
Leo und ich fuhren sie zum Flughafen. Im Auto beobachtete ich ihr Gesicht, an dem abzulesen war, dass sie nichts von dem begriff, was sie sah – ob Boulevards, neue Wohnblocks oder Bürotürme, diese Phantasien aus Baugerüsten und Beton. Aber vielleicht nahm sie all das gar nicht wahr; vielleicht sah sie nur das
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