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Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)

Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)

Titel: Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick McGuinness
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die er nach jedem Einschenken ruckartig hob. Leo und ich saßen uns an den Kopfenden des langen Esstisches gegenüber wie Baron und Baronin, denen nur noch Kerzen und ein allerletzter Diener geblieben waren.
    Später, nachdem unser Koch, Kellner und Faktotum die flambierten Pfannkuchen serviert hatte, gab Leo ihm als Trinkgeld einige Kents und schüttelte seine Hand. Dann verließ uns der Mann, um nach Hause oder zu neuen Taten aufzubrechen. Wir konnten hören, wie das in den Koffern verstaute Tafelsilber und Geschirr im Treppenhaus klapperte.
    »Na, was hältst du davon, zu Hause wie im Capsia zu speisen?«, wollte Leo wissen.
    »Wunderbar, Leo, besten Dank. Du hättest vorher fragen sollen. Der Typ ist mir unheimlich, und ich möchte nicht, dass er in meiner Wohnung herumschnüffelt.«
    »Du kannst dir hier nicht aussuchen, wer in deiner Wohnung herumschnüffelt. Du kannst nur hoffen, mit dem betreffenden Schnüffler in gutem Einvernehmen zu stehen.«
    »Mit wem? Etwa mit dir?«
    »Lahmer Witz, lahmer Witz, aber ich halte dir zugute, dass du nach deinem Besuch in der alten Polizeizentrale erschöpft und emotional ausgelaugt bist.«
    Leo trank den letzten Schluck einer Flasche Tokajer und entzündete eine kubanische Zigarre aus der Kiste auf dem Kaminsims, ein weiterer unerschöpflicher Vorrat Belangers. Das Telefon klingelte. Nach dem Abnehmen wurde sofort aufgelegt, aber ich hörte noch das zeitverzögerte Klicken, das die angezapfte Leitung verriet. Wieder war niemand dran.

SIEBEN
    Durch meine Freundschaft mit Leo empfand ich den Alltag weniger als stalinistische Schreckensherrschaft, sondern eher als schattenhafte Autokratie der Unfähigkeit – schurkenhaft und plump, manchmal komisch, meist absurd. Wir wussten zwar um die Bösartigkeit des Systems, glaubten aber, dass es zu schlecht organisiert war, um diese Bösartigkeit ganz entfalten zu können. Wir irrten uns, aber wenn man jemanden wie Leo kannte, der fast jeder Zwickmühle entkam, entwickelte man ein trügerisches Gefühl der Unberührbarkeit. Dass sich die Bedeutungslosigkeit ganz ähnlich anfühlte, wäre mir nie in den Sinn gekommen.
    Lief Leo vor etwas davon? Auch er war aus einem anderen Leben hierher versetzt worden – vielleicht hatte er mich für diesen Job ausgewählt, weil er glaubte, dass es mir ähnlich erging –, aber ich wusste nicht genau, was er zurückgelassen hatte. Man sieht den meisten Menschen an, wovor sie geflohen sind; sie zeichnen sich durch eine Art Flachrelief der Beschädigung, des Irrtums oder der Reue aus. Leos Gründe lagen tiefer: eine gescheiterte Ehe, Entfremdung von den Kindern, eine erfolgreiche, aber durch Sauferei ruinierte akademische Karriere, Affären mit Studentinnen sowie eine sagenhafte Unzuverlässigkeit. Sein Buch über Reiseliteratur, in seiner Sparte ein kleiner Klassiker, verkaufte sich nach anderthalb Jahrzehnten immer noch und warf Tantiemen ab, die zwar eher bescheiden, als harte Währung in Rumänien jedoch sehr nützlich waren. Ich fand eine Ausgabe seines Buches in der Universitätsbibliothek. Das Foto auf der hinteren Klappe zeigte den fünfzehn Jahre jüngeren, elegant gekleideten Leo mit vollem Haar und markanten Zügen. Den heutigen Leo mit seinem dekadenten Flair, den Hängebacken und schwammigen Gesichtszügen, halb Connaisseur und Feinschmecker, halb Billigfusel saufender Versager, dessen Leben keinem Plot mehr folgte, sondern in untergeordneten Handlungssträngen zerfaserte, konnte ich in diesem alten Bild nicht mehr erkennen.
    Nach einer seiner Führungen durch die verschwindende Stadt fragte ich ihn, wie er hier geendet war. Ich wollte wissen, warum er sich im Jahr 1989 ausgerechnet am anglistischen Seminar der Universität Bukarest wiederfand. Er antwortete: »Eines schönen Tages erwachte ich in meinem Bett in East Molesey und dachte: ›Außer einer Frau und zwei Kindern, der Hypothek, dem Haus und dem Beruf gibt es hier nichts, was dich halten würde …‹ Und nun sieh mich an – hier bin ich, Genosse, hier bin ich!«
    Vor einigen Jahren waren die Lagerräume, in denen Leo seine Beute aufbewahrte, aus allen Nähten geplatzt, und deshalb nutzte er inzwischen auch Kellerräume in der Nationalgalerie und im Naturkundemuseum. Das hatte nicht zuletzt den Vorteil, dass er halbprofessionelle Hilfe in Gestalt von Paletten, manchmal auch von Hilfskräften bekam. Die Direktoren hatten ein Interesse an Leos Machenschaften, weil er ihnen unter dem Deckmantel von Museumsankäufen zu Objekten

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