Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)
schlossen sich Bad und Schlafzimmer an. Ottilia entfachte eine Gaslampe. In ihrem flackernden Schein schienen sich Decke und Wände auf uns zuzubewegen. Sie betätigte probehalber die Lichtschalter, aber es gab keinen Strom.
»Tee?«, fragte sie. »Oder lieber Wasser?« Sie zündete einen Kocher an, der mit einer Butangasflasche verbunden war. Eine Sardellenkonserve aus Nordkorea stand neben einem halben Laib Brot, der mit einem feuchten Tuch zugedeckt war. Wir setzten uns – sie auf den Barhocker vor ihrem Essen, ich auf das Sofabett. Ich schob das zusammengefaltete Bettzeug weg, um mehr Platz zu haben. Gitarrenkasten und Verstärker lehnten an der Wand.
»Hat er die Sachen nicht geholt?«
Ottilia kehrte mir den Rücken zu, einen Ellbogen auf den Tisch gestützt, während sie mit der Gabel eine rostfarbene Pampe aus der Konserve aß. Fischgeruch erfüllte den Raum.
»Nein. Er hat sich nicht bei mir gemeldet. Bei niemandem. Wir haben erwartet, bald nach der Aktion von ihm zu hören. Er wäre bestimmt nicht abgehauen. Nicht ohne uns vorher davon zu erzählen.«
»Ich war dabei. Er ließ durch nichts erkennen, dass er fliehen wollte. Und er ist nicht in Richtung Grenze verschwunden.«
Ottilia sah mich überrascht an. »Warum waren Sie dabei? Sie sind doch nur ein Tourist. Entschuldigung …«, verbesserte sie sich, »… ein Besucher .«
Ich erklärte ihr die Sache. Dann fragte ich, warum sie mit Petre zusammenwohnte.
»Er ist mein Halbbruder. Verschiedene Väter. Petre wurde geboren, als ich vier war. Wir sind zusammen aufgewachsen.« Sie sah mir in die Augen. »Er hat Sie nie erwähnt.«
»Kann sein, aber wir sind befreundet. Ich hoffe es jedenfalls.« Irgendetwas hielt mich davon ab, dies in der Vergangenheitsform zu sagen. Ottilia schien sie trotzdem herauszuhören, denn sie legte die Gabel weg und schlug die Hände vor ihr Gesicht.
»Ich mache mir Sorgen. Ich habe nichts von ihm gehört. Kein Brief, kein Anruf, nichts. Und ich kann niemanden aus seiner Truppe mehr fragen. In der letzten Zeit hat Petre an keinem Kurs und keiner Probe mehr teilgenommen, und er hat noch nie eine verpasst. Sein Freund Vintul ist auch verschwunden.«
»Was ist Ihrer Meinung nach passiert?«
»Vielleicht hat man sie gefasst. Aber wenn es so wäre, hätte ich es erfahren müssen. Vor allem wären in diesem Fall Maßnahmen gegen Freunde und Familie ergriffen worden. Zum Beispiel gegen mich. Aber nichts dergleichen ist passiert. Und Petre würde das Land genauso wenig verlassen wie ich.«
Sie saß eine Minute stumm da. »Er hat immer eine Nachricht im Krankenhaus hinterlassen …« Sie brachte den Satz nicht zu Ende; er kleckerte in der Dunkelheit aus, die man durch das Reden in Schach hält. Ottilia öffnete den Mülleimer, die Konserve fiel scheppernd hinein. Sie wirkte verzweifelt.
»Ich habe immer befürchtet, dass so etwas passiert. Ich habe zu ihm gesagt: ›Bitte hör auf damit, oder verschwinde ein für alle Mal.‹ Er hat nur erwidert, ich solle mir keine Sorgen machen – er werde das Land auf keinen Fall verlassen, er stehe unter Schutz. Er hat immer gesagt, es gebe zwei Sorten von Menschen: jene, die sich im Exil verlieren, und jene, die sich dort finden. Er wusste, dass er sich verlieren würde, und ich wusste, dass er nie fliehen würde.«
»Was hat er mit unter Schutz gemeint?«
»Ich habe ihn auch danach gefragt, aber er hat mir darauf nie geantwortet. Wer sollte ihn schon beschützen?«
Ich legte einen Arm um sie, spürte die mageren Schultern unter ihrer Bluse, den straffen, in die Haut schneidenden BH-Träger. Ihre Füße waren geschwollen, ihre Hände wund vom vielen Schrubben. Ich strich über ihre abgebissenen Fingernägel, den Schorf auf der wunden Nagelhaut. Ihr Gesicht war lang und eingefallen. Wie mochte sie aussehen, wenn sie glücklich, ausgeschlafen und gut ernährt war? Mit ihren dunkelbraunen Augen und hohen Wangenknochen, ihrem kräftigen, widerspenstigen Haar, das trotz der Spange am Hinterkopf immer wieder über die Augen fiel, hatte sie etwas von einer Griechin – sie war von ungestümer, aber unterdrückter Schönheit.
Ich beschwor hoffnungsvolle Bilder herauf: Petre versteckte sich im Untergrund; Petre war außer Landes und versuchte, Kontakt zu ihr aufzunehmen; Petre sah sich in der Carnaby Street nach Gitarren um … Sie war so nett, ein- oder zweimal zu nicken, drückte meine Finger, während ich sprach.
Ich kochte Tee, ein sehr britischer Reflex. Ich beobachtete sie, während
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