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Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)

Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)

Titel: Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick McGuinness
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die sich unter den Kipplastern gebildet hatten.
    An der Grenze zu Jugoslawien gab es eine undichte Stelle, eine Verengung der Donau, die zwar durch Stacheldraht und Patrouillen gesichert, aber nicht ständig bewacht wurde. Rumänien grenzte an fünf Länder, aber das immer zerstrittenere Jugoslawien war ein beliebtes Ziel, zumal es ein Schritt in Richtung Westen war. Leo hatte bisher dreimal an solchen Aktionen teilgenommen, aber nur wenige Flüchtlinge ließen danach von sich hören – durch verschlüsselte Postkarten oder Botschaften, die wie Stille Post im Untergrund kursierten.
    Gegen einundzwanzig Uhr erreichten wir unser Ziel, eine Kleinstadt namens Hinova, nur wenige Kilometer von der Grenze entfernt. Leo hatte Zimmer in einem Hotel gebucht, in dem wir die einzigen Gäste waren. Er bestellte Wein und bat um die Speisekarte, die mündlich vorgetragen wurde und nicht mehr als fünf Silben lang war. Nach wässerigem Eintopf und Ersatzkaffee drehten wir draußen eine Runde. Auf dem kleinen Marktplatz wurden die Schatten immer länger. Diese Stadt war noch nicht unter die Räder des Modernisierungsprojekts geraten. Sie wirkte vollkommen bedeutungslos: verdorrte Rasenflächen, ausgetrocknete Springbrunnen, bröckelnde Kalksteinbüsten vergessener Persönlichkeiten, in deren Schatten Hunde lungerten und die Leere anknurrten. Greise saßen auf Bänken, Volksmusik drang aus einem Café mit geschlossenen Fensterläden. Das einzige moderne Gebäude in dieser Stadt war die Parteizentrale, ein kleiner Kubus aus Schlackensteinen und grauen Betonplatten, mit verblichenen Fahnen und rostigen Propagandatafeln.
    Wir trafen die anderen auf einem Parkplatz am Stadtrand. Vintul, Petre, drei weitere junge Männer sowie zwei junge Frauen. Ich kannte nur eine von ihnen – Mel, die ich damals in der Nähe des Palasts des Volkes kennengelernt hatte. Heute Abend hieß sie Ana. Jeder trug einen in Mülltüten verpackten Rucksack, alle redeten großspurig daher, waren tapfer, aber nervös. Nur Petre und Vintul blieben gelassen. Vintul, weil er das Kommando hatte, Petre, weil er über allem zu schweben schien. Er gab mir lächelnd die Hand. »Tut mir leid wegen neulich Abend …«, setzte ich an. »Nicht jetzt«, erwiderte er. »Außerdem ist das abgehakt. Ich habe es längst vergessen.« Unsere Freundschaft hatte anscheinend nicht gelitten, aber er war zurückhaltender; ob zu seinem oder meinem Schutz, war schwer zu sagen. Meine Freundschaft mit Cilea schien ihn zu beunruhigen, denn er fragte mich, ob ich ihren Vater kenne, entspannte sich aber, als ich verneinte. Jetzt würde ich ihn wohl sowieso nicht mehr kennenlernen.
    Wir bildeten drei Gruppen. Leo und ich brachen zuerst auf, Petre und Vintul schlugen eine jeweils andere Richtung ein. Wir wanderten eine gute Stunde durch eine Gegend, karg wie der Randstreifen einer Autobahn, und erreichten dann eine Kette kahler, knochentrockener Hügel, die uns bis zu einem dichten Wald führten.
    Wir waren wachsam, blieben alle zwanzig Meter stehen, um zu warten und zu horchen. Der Wald schien nur aus Schatten zu bestehen. Sobald wir ihn betreten hatten, wurde es kühler, das Unterholz dämpfte unsere Schritte.
    »Fangeisen«, flüsterte Leo. »Aber nicht für Füchse.«
    Nach zweihundert Metern nahm Leo eine Taschenlampe zur Hand. Ein Trampelpfad verlief zwischen Brennnesseln, Brombeeren und Rankenbüscheln, dick wie Kinderarme. Hier gab es Pflanzen, die im ewigen Schatten wuchsen, üppig und von Dunkelheit gesättigt wie Tiefseefische. »Wolfslosung.« Leo richtete den Lichtstrahl auf kalkweiße Haufen. Im Schein der Taschenlampe schien der Boden zu schwanken. Ich stolperte, und als ich stürzte, sah ich eine Fuchsfalle, ein rostiges Fangeisen wie ein weit aufgerissenes Haifischmaul. Menschen waren hineingetreten und verblutet, und wer sich hatte befreien können, war mit kaputten Knochen und klaffenden Wunden nach Hause gehumpelt. Ich wurde von hinten gehalten, und bevor ich schreien konnte, legte sich eine Hand auf meinen Mund – Vintul hatte zu uns aufgeschlossen. Er ließ die Falle mit dem Stock zuschnappen. Er war die ganze Zeit dicht hinter uns gewesen.
    Schließlich erreichten wir den Waldrand. Vor uns floss die Donau im Zwielicht dahin, träge, dunkel, ölig. Stromaufwärts erhob sich die Silhouette eines Wachturms vor dem mondhellen Himmel. Zwischen Turm und Wasser erstreckte sich ein vier Meter hoher elektrischer Stacheldrahtzaun. Sein Knistern erinnerte an Insektengesumm.
    Vintul

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