Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)
ahmte einen Eulenruf nach. Stille. Wir warteten. Dann schallte eine Antwort über das Wasser. Ich sah, wie auf dem anderen Ufer eine Taschenlampe aufblitzte, Hunderte Meter entfernt. Vintul stieß noch einen Ruf aus. Danach tat sich nichts mehr.
»Ihr könnte euch ausruhen. Wir warten auf die nächste Stromabschaltung. Bleibt unter den Bäumen.« Leo stand keuchend da, gebückt, die Hände auf den Knien. Die anderen hockten am Waldrand. Niemand sprach oder regte sich. Wir hörten nur das Summen, mit dem die tödliche Voltzahl durch den Zaun strömte.
Schließlich trat Stille ein. Der Zaun erbebte. Dicht dahinter blitzte Klingendraht auf und versank wieder im Dunkeln. Es war ein gut gewählter, weil nahezu unbewachter und schwer einzusehender Ort. Man hatte sorgfältig Löcher in den Zaun geschnitten, die nach einem Grenzübertritt leicht zu schließen waren. Vintul ging voran und öffnete den Elektrozaun mit einer kräftigen Zange. »Der Zaun muss nach jeder unserer Aktionen intakt sein. Wenn der Stromkreis unterbrochen wird, merken sie, dass hier Menschen durchgeschlüpft sind, und dann wäre uns dieser Weg versperrt«, erklärte Leo. »Jede Unterbrechung des Stromkreislaufs löst Alarm aus.« Vintul löste die Drähte und drückte den Zaun auseinander. Er stieg durch das Loch und teilte den Klingendraht. Im Mondschein, der vom Fluss reflektiert wurde, war er gefährlich gut zu erkennen, aber er war flink. Wenige Minuten nur, dann hatte er im Zaun mehrere Löcher geöffnet, die gut zu passieren waren. Er schlich zum Ufer, blieb stehen, drehte sich um. Wir hatten freie Bahn.
Die Strömung war stark. Im Licht blitzten Strudel auf; die Donau ließ ihre Muskeln spielen. Ich sah zu, wie sie die Überquerung antraten, zuerst zwei junge Männer, dann die zwei jungen Frauen, zuletzt der dritte Mann. Die beiden großmäuligen jungen Männer waren plötzlich kleinlaut und verängstigt. Wir beobachteten, wie sie in den Fluss stiegen und Schreie unterdrückten, als das Wasser ihre Schuhe füllte, die Kleider durchdrang, sie hinabzog. Eine junge Frau schien eher zu treiben als zu schwimmen, ließ sich von der Strömung mitziehen. Dann waren sie verschwunden.
Vintul stand schon wieder auf der steinigen Böschung und flickte den Zaun. Wir hatten unterwegs etwas Zeit verloren, und er musste sich beeilen. Er konnte die gekappten Drähte gerade noch rechtzeitig verbinden: Kurz nachdem er die Hände vom Zaun genommen hatte, stand dieser wieder unter Strom. Das Summen der Elektrizität übertönte das Plätschern des Flusses, der gegen das Ufer schwappte.
Petre umarmte mich lächelnd. »Deine erste Mission! Darauf stoßen wir bald an!« Er wollte mit Vintul dem Fluss folgen, der sich in Richtung Vânju Mare tiefer auf rumänisches Terrain schlängelte. »Dort gibt es ein kleines Dorf, in dem wir Bekannte haben. Wir kehren auf eigenen Wegen nach Bukarest zurück«, sagte Vintul und verschwand darauf im Wald.
Leo und ich wanderten nach Hinova. Unterwegs holte uns die Morgendämmerung ein. Wir erreichten das Hotel gegen fünf Uhr früh und gingen an der unbesetzten Rezeption vorbei zu unseren Zimmern.
»Warum musste ich mitkommen, Leo? Ich konnte nichts tun. Ich habe nur herumgestanden und zugeschaut.«
»Du hast gute Arbeit geleistet«, antwortete Leo. »Ja, du hast herumgestanden , aber du hast als Komplize herumgestanden , und das ist für sie und uns nützlicher als alles, was du hättest tun können … Außerdem wirst du schon bald bis zum Hals in der Sache stecken. Jetzt kannst du dich erst einmal ein bisschen zurücklehnen.«
Nach dem Frühstück fuhren wir durch die Dörfer der Craiova und die Weinberge von Segarcea. Verglichen mit dem grauen und öden Bukarester Umland, war diese Fruchtbarkeit fast ein Schock. Hier blühte und gedieh alles. Überall wuchsen Mais, Kohl, Tomaten; die Bäume in den Obstgärten hingen voller Früchte, auf den Feldern leuchtete das Gemüse. Die Erde brachte alles hervor, die Sonne ließ es großzügig reifen. An den Rebstöcken, die sich in schnurgeraden Reihen die Hänge hinaufzogen, hingen dicke weiße Trauben. Melonen, groß wie Fußbälle, lagen auf der dunklen Erde und warfen ihre Ranken aus. Es gab Gewächshäuser und Folientunnel, so weit das Auge reichte. »Alles für den Export«, sagte Leo, der meinen Blick bemerkte. »Die armen Schweine in den Fabriken haben bestenfalls mal in Dynasty eine Melone gesehen. Rumänien ist eigentlich ein Land der Fülle; der verfluchte Mangel ist
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