Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)
künstlich erzeugt.«
Eine Woche verstrich. Petre erschien nicht wie verabredet im Karpatenbären . Auch Vintul nahm keinen Kontakt zu Leo auf, obwohl er gleich am nächsten Tag hatte anrufen wollen. Ich hielt während der Musikvorlesungen vergeblich Ausschau nach Petre. Er ließ die erste Probe von Fakir aus, zur zweiten kam er auch nicht. Das für Anfang Juli geplante Konzert wurde abgesagt.
Cilea wollte mich immer noch nicht sehen. Neulich Nacht war offenbar etwas geschehen, das über die Demütigung von Nicu Ceaușescu hinausging, aber ich wusste nicht, was. Der Zufall hatte sie alle in diese schreckliche Disco geführt – die Serben, Nicu, Stoicu, Manea, Cilea –, und ich war dort auch gemeinsam mit Leo und Petre gelandet, weil ich in letzter Minute beschlossen hatte, Bukarest nicht zu verlassen. Hatte diese Zufallskonstellation unmerklich etwas in Gang gesetzt? Cilea ging mir aus dem Weg, Petre war wie vom Erdboden verschluckt, Leo hatte sich in seiner Wohnung verkrochen und brütete vor sich hin.
Drei Wochen später hörte Leo erste Gerüchte: Ein deutscher Fernfahrer, ein Kollege von Norbert dem Schwätzer, prahlte damit, in Hamburg drei Nächte in Folge mit derselben Prostituierten verbracht zu haben, einer jungen Rumänin. Diese Frau, Ana, war neu im Geschäft, und er äußerte die Vermutung, sie »zugeritten« zu haben. Leo bat ihn, die junge Frau zu beschreiben, und seine Befürchtung wurde bestätigt: Sie hatte Piercings und einen Stift in der Nase, und ihr jugoslawischer Zuhälter ließ sie nicht aus den Augen.
»Das kann sie nicht sein!«, sagte ich. »Wahrscheinlich gibt es in jeder Hafenstadt Hunderte solcher Mädchen. Außerdem kann dieser Hans sicher nicht zwischen Rumäninnen und Russinnen unterscheiden.« Meine Stimme hatte einen schrillen, verzweifelten Unterton.
Leo und ich beschlossen, Petre aufzustöbern. Er hatte mir nur den Namen der Wohnsiedlung genannt, aber Leo fand seine Adresse in der Datenbank der Universität. Zum Glück, denn die zwölf Blocks der »Siedlung Nr. 14« waren praktisch identisch. Ein erfahrener Beobachter hätte anhand des Verfallszustands der Fassaden und des Schimmels vielleicht schätzen können, welcher Wohnblock zuerst erbaut worden war – ähnlich wie ein Fachmann den Reifegrad eines Blauschimmelkäses beurteilt –, aber ein Laie konnte die Unterschiede unmöglich erkennen.
Leo parkte vor Block Nr. 7 und holte eine Sojasalami heraus. »Die leuchtet im Dunkeln – über die Bohnenfelder weht ein von Tschernobyl kommender Wind.« Er schwenkte seinen gefleckten, fleischfarbenen Schlagstock im Autofenster und schickte mich nach oben.
In der Eingangshalle stand der Fahrstuhl bereit, reagierte aber nicht, als ich den Knopf drückte. Ich musste in das achte Stockwerk. Die Betonstufen waren rauh und bröckelig, im Treppenhaus hörte man wirre, unzusammenhängende Geräusche: Stimmen, Babygeschrei, in jedem Stockwerk das immer gleiche Fernsehprogramm. Die Wände waren feucht, und es tropfte überall. Ein Wassertropfen landete auf meiner Oberlippe. Er schmeckte nach Essig und Kalk.
Im achten Stockwerk musste ich erst einmal wieder zu Atem kommen. Der Flur roch nach aufgewärmtem Kohl, immerhin erträglicher als der Gestank nach Hundekot und vergammelnden Essensresten im Treppenhaus. Ich fand die Tür. Eine in Folie eingeschweißte, quadratische Karte trug die getippte Aufschrift:
Romanu, P.
Moranu, O.
Ich klopfte. Als niemand öffnete, hockte ich mich vor die Tür und wartete. Schlüssel klapperten im Dunkeln. Schritte näherten sich. Dann tauchte Ottilia Moranu, die Ärztin aus dem Krankenhaus, bleich und erschöpft, in einem dreckigen, einst weißen Krankenhauskittel und mit flachen Schuhen aus dem Treppenhaus auf. Sie hatte eine Taschenlampe dabei, und als ich auf die Beine kam, richtete sie den Strahl direkt auf mein Gesicht.
»Wer sind Sie?« Sie ging zur Tür, hielt den Lichtstrahl aber weiter auf meine Augen gerichtet.
»Wir sind uns begegnet. Im Krankenhaus«, sagte ich auf Englisch.
»Lassen Sie mich in Ruhe.« Sie wich in die Tür zurück.
»Meine Freundin, meine Kollegin Rodica … Sie hatten damals Dienst. An dem schrecklichen Abend.«
Ottilia kam rasch zur Besinnung. » Schrecklicher Abend ? Meinen sie den stinknormalen, ganz gewöhnlichen Abend in einem rumänischen Krankenhaus, das Sie zufälligerweise ein einziges Mal besucht haben?«
Die winzige Wohnung bestand aus einem Raum, der als Wohnzimmer, Küche und Esszimmer diente. Daran
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