Die achte Offenbarung
Heiligsten hatte der Mönch wohl sonst gemeint? Die Katholische Kirche verehrte über 6000 Heilige und Selige, hinzu kamen noch einmal mehr als 7000 offizielle Märtyrer. Selbst wenn man alle abzog, die im Mittelalter noch nicht gelebt hatten, waren das eine Menge Gräber, die Hermo von Lomersheim hätte besuchen können.
Sein Blick glitt zum wiederholten Mal über die entsprechenden Zeilen in seinen Aufzeichnungen:
… welche die alten Könige bezeugen, die neben den jungen im Lichte Gottes stehen, wo die Heiligsten ruhen …
Paulus stutzte. Bisher hatte er das Wort »Heiligsten« als für sich allein stehendes Substantiv betrachtet, das somit beliebige Heilige bezeichnen konnte. Doch die Glyphen unterschieden nicht zwischen Groß- und Kleinschreibung. Vielleicht war »heiligsten« als Adjektiv gemeint? Dann bezöge sich die Formulierung auf die Könige, undder Text müsste sinngemäß lauten: »wo die heiligsten Könige ruhen«.
Paulus war kein Theologe, aber mit den »heiligsten Königen« konnten wohl nur jene gemeint sein, die der Weihnachtsgeschichte zufolge dem neugeborenen Jesus ihre Aufwartung gemacht hatten.
Angeblich befanden sich die Gebeine der Heiligen Drei Könige im Kölner Dom. Paulus recherchierte die Details im Internet: Kaiser Friedrich Barbarossa, dem die Reliquien nach der Eroberung Mailands in die Hände gefallen waren, hatte sie im Jahr 1164 dem Kölner Erzbischof geschenkt. Sie lösten einen enormen Pilgeransturm in Köln aus, der schließlich zum Bau des Kölner Doms führte, einem der gewaltigsten Bauvorhaben seiner Zeit. Die Kathedrale war bereits zu Hermo von Lomersheims Lebzeiten ein bedeutendes Pilgerziel gewesen, auch wenn der Bau erst im 19. Jahrhundert vollendet worden war.
Nun war auch klar, was die Erwähnung der Könige zu bedeuten hatte, die »im Lichte Gottes standen«: Zu Beginn des 14. Jahrhunderts waren in den Oberchor des Doms Glasfenster eingesetzt worden, die 48 Könige zeigten – die Hälfte davon mit, die andere ohne Bart. Diese Fenster gehörten zu den ältesten noch erhaltenen Glasmalereien.
Es gab keinen Zweifel mehr: Im Jahr 1411 war der Mönch nach Köln gepilgert. Wahrscheinlich fand sich in den Glasfenstern oder in deren unmittelbarer Nähe eine Inschrift, die das Schlüsselwort enthielt.
Paulus war zuletzt als Kind im Kölner Dom gewesen. Er hatte damals mit seinen Eltern eine Tour durch Deutschland gemacht, kurz bevor sich seine Mutter von seinem Vater getrennt und Paulus mit sich nach München genommen hatte. Er war damals acht Jahre alt gewesen.Er erinnerte sich noch, dass ihn die mittelalterlichen Burgen entlang des Rheins fasziniert hatten. Die Kathedrale war ihm damals allerdings ziemlich langweilig vorgekommen.
Er googelte Bilder des Doms und fand eine Menge Fotos der Glasmalereien des sogenannten Königszyklus. Die Darstellungen der Könige in den Fenstern glichen der Zeichnung in dem Manuskript bis ins Detail. Allerdings war auf keinem der Fotos eine Inschrift zu erkennen.
Als er gerade die Fotoserie eines talentierten Amateurfotografen studierte, der sich eingehend mit der Innenarchitektur des Doms beschäftigt hatte, klingelte es an der Tür.
Er sah auf die Uhr: halb zwei mittags. Er hatte gar nicht gemerkt, wie die Zeit verstrichen war.
Wer mochte um diese Zeit etwas von ihm wollen? Ein Paketbote vielleicht? Er hatte in letzter Zeit nichts im Internet bestellt.
Durch den Türspion erblickte er einen jungen Mann mit schwarzem Vollbart.
Paulus war stolz darauf, keine Vorurteile gegenüber Menschen aus anderen Kulturkreisen zu haben, aber er war auch nicht naiv. Er legte die Sicherheitskette ein, bevor er die Tür einen Spalt weit öffnete. »Ja, bitte?«
»Paulus Brenner?«, fragte der Mann. Er hatte einen starken, rauen Akzent.
»Ja?«
»I come from Aaron Lieberman.« Sein Englisch klang abgehackt, so als habe er nur ein paar Brocken gelernt. »He gave you book, last day. Now he want it back. You give me book, please.«
Paulus erschrak. Hatte der Amerikaner es sich tatsächlich anders überlegt und wollte das Buch nun doch zurückhaben? Aber warum hatte er Paulus dann nicht angerufen und ihn persönlich darum gebeten? Andererseits musste Lieberman den Mann wohl geschickt haben – woher sonst hätte jemand von dem Treffen und dem Buch wissen sollen?
Trotzdem – Paulus hatte ein ungutes Gefühl bei der Sache. »How do I know that Mr Lieberman sent you?«, fragte er.
»Lieberman told me to go to you and get the book. He gave me your
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