Die Achte Suende
dreimal um die eigene Achse drehte, wickelte der Sekretär das Tuch ab und faltete es mehrmals. Dann legte er den Stapel auf den Tisch in der Mitte des Saales. Die Männer, die das Procedere mit Spannung verfolgt hatten, blieben stumm.
»In nomine domini«, murmelte Anicet süffisant und begann das Tuch zu entfalten.
Hundert Augenpaare verfolgten aufmerksam jeden Handgriff des Großmeisters. Obwohl jeder im Saal genau wusste, was vor seinen Augen ablief, war die Atmosphäre zum Zerreißen gespannt.
Der Länge nach hatte Anicet das Tuch bereits auf über zwei Meter ausgebreitet. Jetzt trat der Kardinal an das andere Ende, und gemeinsam mit dem Großmeister schlug er das doppelt gefaltete Leinen auseinander.
»Das ist der Anfang vom Ende«, triumphierte Anicet. Bis zu diesem Augenblick hatte sich der Großmeister in seiner Gewalt gehabt und kühl und emotionslos gehandelt. Nun aber, im Anblick des ausgebreiteten Tuches, rang er nach Luft, und er wiederholte ein ums andere Mal: »Der Anfang vom Ende.«
Die Männer um ihn herum blickten skeptisch, manche zeigten Anzeichen von Verwirrung. Ein kleiner, glatzköpfiger Mensch mit hochrotem Kopf klammerte sich an seinen Nebenmann und verbarg das Gesicht an dessen Brust, als könnte er den Anblick nicht ertragen. Ein anderer schüttelte den Kopf, als wollte er sagen: Nein, es kann nicht sein! Ein Dritter, dessen Tonsur seine mönchische Vergangenheit verriet, obwohl er statt Kutte einen dunklen Anzug trug, schlug sich wie in Ekstase heftig gegen die Brust
Vor ihnen lag das Tuch, in welches Jesus von Nazareth nach seinem Kreuzestod eingehüllt worden war. Schattenhafte Spuren hatten auf dem Leinen den Negativ-Abdruck eines geschundenen Mannes hinterlassen. Deutlich waren Vorder-und Rückseite im Abstand von einem halben Meter zu erkennen. Und man brauchte nur lange genug auf die Stelle zu starren, wo das Gesicht gewesen sein musste, dann nahm das Bild dreidimensionale Formen an.
Der Kardinalstaatssekretär atmete schwer. In die Spannung, die der Anblick auch bei ihm hervorrief, mischte sich Wut auf Anicet und auf die Bruderschaft.
Von der Seite trat der Großmeister auf Gonzaga zu. Ohne den Blick von der kostbaren Reliquie zu wenden und als hätte er dessen Gedanken gelesen, raunte er ihm zu: »Ich kann verstehen, wenn Sie mich hassen, Herr Kardinal. Aber glauben Sie mir, es gab keine andere Möglichkeit.«
Kapitel 5
Nach dreitägigem Aufenthalt verließ Lukas Malberg die Klinik Santa Cecilia. Dies geschah gegen den Willen der Ärzte und mit der ausdrücklichen Ermahnung, jede Anstrengung, vor allem aber jede Aufregung, zu vermeiden.
Das war leichter gesagt als getan. Auf seinem stickigen Hotelzimmer – es war um den Ferragosto – versuchte Malberg zuallererst, den Kopf klar zu bekommen. Die Mitwisserschaft am mysteriösen Tod Marlenes hatte sein Urteils-und Wahrnehmungsvermögen beeinträchtigt. Und nach Stunden des Grübelns stellte sich Malberg ernsthaft die Frage, ob er das alles wirklich erlebt, ob er nicht geträumt hatte. Nachdenklich strich er über den Einband von Marlenes Notizbuch. Das jedenfalls war kein Traum. Er musste wissen, was passiert war.
Von Zweifeln geplagt, zog er den Zettel hervor, auf dem er Marlenes Telefonnummern notiert hatte, und griff zum Telefon. Er wählte die Nummer, und zu seinem Erstaunen vernahm er das Freizeichen.
»Hallo?«
Malberg erschrak zu Tode. Er brachte keinen Ton hervor.
Eine weibliche Stimme wiederholte die Frage, diesmal energischer: »Hallo? Wer ist da?«
»Lukas Malberg«, er kam ins Stottern und fuhr fort: »Marlene, bist du’s?«
»Hier spricht die Marchesa Lorenza Falconieri. Sagten Sie Malberg? Der Antiquar aus München?«
»Ja«, erwiderte er kleinlaut und blickte verdutzt auf seinen Zettel.
»Ich muss Ihnen eine traurige Mitteilung machen«, begann die Marchesa zögernd. »Marlene ist tot.«
»Tot«, wiederholte Malberg.
»Ja. Die Polizei weiß noch nicht, ob es ein Unfall oder Selbstmord war …«
»Ein Unfall oder Selbstmord?«, brauste Malberg auf. »Nie im Leben!«
»Man weiß es noch nicht«, wiederholte die Marchesa kühl und beherrscht. »Sie meinen, Marlene war nicht der Typ Frau, die ihrem Leben selbst ein Ende setzt? Mag sein. Vielleicht kannte ich sie nicht gut genug. Im Übrigen, wer kann schon in einen Menschen hineinsehen. Dann war es vermutlich doch ein Unfall.«
»Es war auch kein Unfall!«, polterte Malberg los. Er erschrak über seine eigenen Worte.
Die Marchesa schwieg einen
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