Die Adler von Lübeck: Historischer Roman
würde. Aber man wusste auch, dass die Augen viel Futter bekommen würden, dass die Ohren unerhörte Dinge zu hören kriegen würden; und wenn eine Hand auf Knie und Schenkel lag, konnte es Zufall oder Eifer sein – aber es konnte auch etwas anderes bedeuten. Wer im Alltag grau und bieder war, besuchte die Fluchbüchse, um sich wunder wie zu fühlen; wer ein Filou und Hallodri war, saß hier, um sich daran zu erfreuen, dass er dazugehörte. Die Geheimnisvollen steigerten ihr Geheimnis, die Schönen steigerten die Zahl der erhaltenen Komplimente. Und wer von Neuigkeiten lebte, war hier besser aufgehoben als überall sonst, denn in der Gaststube fanden sich Allianzen und Koalitionen, hier begann vieles neu und manches hörte auf. In den anderen Gasthäusern wurde nur festgeklopft, was längst bekannt war. In der Fluchbüchse war alles im Fluss: Geschäfte, Feindschaften, Affären, Karrieren, nicht zuletzt Essen, das den Magen nicht sprengte, Branntwein, der am nächsten Tag den Kopf nicht dröhnen ließ, und manchmal fing man einen Blick auf, aus dem sich gar nichts weiter ergab. Und doch vergaß man ihn nie, denn man litt süß und schmerzhaft unter der koketten Gewissheit, die folgenreichste Begegnung seines Lebens verpasst zu haben.
Der Mann, der dafür sorgte, dass in Lübeck Abend für Abend auf einer Bühne außerhalb des Theaters eine Aufführung stattfand, hieß Joseph Deichmann. Als Trine ihn kennenlernte , war er gerade aus einem verschlafenen Örtchen südlich der Elbe geflohen. Ihm eilte ein zweischneidiger Ruf voraus, der Trine warnte, sich mit ihm einzulassen. In den ersten Wochen ihrer Bekanntschaft trennten sie sich wohl zehnmal – um danach mit aller Macht wieder aufeinanderzuprallen . Sie verlor sich in seinem guten Aussehen, seiner Kraft und Klugheit, die nicht aus Büchern stammte und nicht von Kanzeln. Er mochte an ihr die Schönheit, für die man zweimal hinsehen musste, um sie zu erkennen. Er sehnte sich nach einer Frau von dieser Zielstrebigkeit, die selbstbewusst und stolz war und dafür keinen großen Familiennamen brauchte. Als sie sich kennenlernten , war Trine eine blutjunge Hebamme, die erlebte, wie einige ihrer Kolleginnen unter dem Regiment der Vorgesetzten litten und sich den dauernden Schikanen entzogen. Trine hielt durch, so schwer das an manchen Tagen fiel. Sie beging Fehler, weil sie ein Mensch war. Sie lernte und wurde geschickter, sie verstand es, ihre Nerven im Zaum zu halten, sie setzte sich durch mit Milde und langem Atem, sie dachte erst und handelte dann, sie fand den Ton, der Ratsherren und Medizinern behagte, sie wurde die Hebamme, deren Wort etwas galt. Und je selbstbewusster sie wurde, umso verliebter wurde ihr Joseph. Denn diese Mischung ersehnte er: Attraktivität, Kennerschaft, die Fähigkeit, bei jedem den richtigen Ton zu treffen, und die Abwesenheit von Angst. Trine Deichmann fürchtete sich vor niemandem: vor Paragrafenreitern nicht und nicht vor Angebern, nicht vor Leuten, die auf ihre Abstammung pochten, ihre Beziehungen, ihren Namen. Sie besaß das Talent, aufgeplusterte Pfauen ins Leere laufen zu lassen und blasierten Hennen den Wind aus den Segeln zu nehmen. Sie konnte Menschen lenken und war unfassbar hartnäckig. Sie war die richtige Frau für das Amt der Hebamme und die richtige Frau für das Amt der Geliebten von Joseph Deichmann. Die beiden passten zueinander, sie taten sich gut. Sie bauten sich eine gemeinsame Existenz auf. Wohl noch nie in der Geschichte der Stadt hatten eine Hebamme und ein Gastwirt es geschafft, gemeinsam so viel Ansehen zu erwerben.
Und jetzt war der Gastwirt verschwunden, und Trine befürchtete, ihn zu verlieren. Es war nicht so, dass Joseph bisher keine Geheimnisse vor ihr gehabt hatte. Die hatte sie auch, beide wussten es und konnten damit leben, denn die Geheimnisse gefährdeten nicht ihre Beziehung. Trines Geheimnisse hatten nichts mit Liebe oder Wolllust zu tun, sie waren von praktischer Art. Sie versteckte Geld vor Joseph. Nicht um es für sich auszugeben, sondern um über einen gemeinsamen Notgroschen für schwere Zeiten zu verfügen. Und manchmal fand eine Münze ihren Weg zum einzigen Sohn der Deichmanns, der mit seiner Familie im Mecklenburgischen lebte.
Sie versteckte Schmuckstücke vor Joseph – die die Mädchen zur Hochzeit bekommen sollten. Sie behielt Abmachungen für sich, die sie mit dem Amtsarzt beschlossen hatte. Sie betrafen Trines Kolleginnen und nicht Joseph.
Vor allem behielt sie die Erlebnisse für
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