Die Adler von Lübeck: Historischer Roman
Jahren. Trine ahnte, dass außerhalb ihres Sichtfeldes etwas geschah, was sie unmöglich dulden konnte. Wenn Joseph aufflog, befand sie sich ebenso im Zentrum des Orkans, der sich unverzüglich erheben würde. Eine Hebamme führte Abtreibungen aus oder ließ zu, dass Abtreibungen durchgeführt wurden! Auf Nichtwissen würde sie sich nicht zurückziehen können. Eine Frau, die nicht wusste, was ihr Mann trieb? Entweder log sie oder sie war eine lächerliche Figur. Auf jeden Fall würde sie ihr städtisches Amt verlieren, man würde sie vor Gericht stellen, man würde sie zu einer peinlichen Strafe verurteilen, und falls sich nicht einer ihrer Gönner für sie einsetzte, würden auf sie Jahre im Kerker warten. Ihre Existenz wäre vernichtet, nach der Freilassung würde sie den Wohnort wechseln müssen, und wo immer sie hinkam, ihr Ruf würde vor ihr dort sein und den Neuanfang erschweren.
Deshalb handelte Joseph Deichmann heimlich – um seine Trine zu schützen. Das wusste sie, das ahnte sie, das wollte sie nicht genau wissen, wenngleich sie einige der Wege kannte, die ihr Joseph und die geheimen Mittel nahmen. Sie ahnte ja auch, welche ihrer Kolleginnen womöglich in die illegalen Tätigkeiten verwickelt war. Ohne ihrer Vorgesetzten davon zu berichten. Aber das fiel nicht unter Missachtung oder Ungehorsam. Das Schweigen war ein Teil des Spiels, an dessen Ende eine Frau zufrieden war, weil ihr Leben nun nicht eine Richtung nehmen würde, die sie fürchtete. Trine Deichmann besaß eine Meinung zu Abtreibungen. Sie verstand es, diese Meinung für sich zu behalten, weil es so das Beste war.
Sie kannte die Tür im Keller ihres Hauses, die sie nicht kennen durfte. Sie kannte Josephs Wege in den Hafen und die Etablissements, in denen Frauen lebten, die regelmäßig Bedarf an geheimen Mitteln verspürten.
Aber seit einigen Wochen war es anders. Seit einigen Wochen ging Joseph andere Wege. Er ging früher fort und kehrte später zurück. Er war in Gedanken und antwortete manchmal nicht auf Fragen, die Trine ihm stellte. Etwas trieb Joseph um, von dem Trine nichts wusste. Es musste sich gegen sie richten – anders konnte sie es sich nicht erklären. Eine Gefahr hing über ihrem Haus. Es musste sich um eine Frau handeln. Joseph lernte viele Frauen kennen – im Gasthaus, bei den täglichen Einkäufen und seinen heimlichen Wegen. Das waren Frauen, die es gewohnt waren, im Heimlichen zu leben und zu agieren. Die Frau, die auf Joseph wartete, würde begreifen, warum alles heimlich bleiben musste. Und sie würde raffiniert genug sein, um diese Art des Lebens zu praktizieren.
Deshalb fürchtete sich Trine seit drei Wochen davor, nach Hause zurückzukehren. Jahrelang hatte es ihr nichts ausgemacht, auf ein leeres Haus zu treffen. Joseph würde ja bald erscheinen. Jetzt konnte sie nicht mehr sicher sein. Etwas war zerbrochen. Und jedes Mal, wenn sie ihre Töchter sah, wurde ihr das Herz noch schwerer.
7
Die Neuigkeit platzte auf wie eine Eiterbeule, nach allen Seiten spritzte die Neuigkeit – in alle Stadtteile, Straßen und Häuser und vor allem an die Orte, wo sich Menschen trafen: auf den Markt, aufs Rathaus, in den Hafen. Die Klatschbasen, die jeder kannte und deren Schwatzhaftigkeit sich jeder gern bediente, erfuhren es nur wenige Minuten, bevor es auch die Menschen wussten, die nicht zur Neugier neigten und Neuigkeiten traditionell als Letzte erfuhren. Daran erkannte man, welche Kraft diese spezielle Neuigkeit besaß.
Anna Rosländer baute ein Schiff!
Anna Rosländer baute das größte Schiff der Welt!
Am frühen Nachmittag setzte ein dünner, bald anschwellender Strom von Menschen ein, die Richtung Werft pilgerten. Der Holk , der in der letzten Woche vom Stapel gelaufen war, lag immer noch am Kai. Ab und zu ließ sich an Deck eine Gestalt ausmachen, der Innenausbau lief also.
Was die Menschen interessierte, spielte sich nicht auf dem neuen Schiff ab. Sie hatten nur Augen für das, was sich vor der Werft abspielte. Hier fuhr ein Pferdegespann nach dem anderen vor. Arbeiter luden Holzplanken ab. Auf der Werft hielten sich weitere Männer auf, die bekannten Gesichter von Rosländer, Querner vor allem. Aber auch Leute, die man hier noch nicht gesehen hatte. Es war diese Mischung aus Bekanntem und Unbekanntem, aus zu Erwartendem und Überraschendem, die die Menschen elektrisierte.
Einer der Neugierigen brachte seine Empfindungen auf den Punkt: »Da spielt sich was ab.«
Aber was? Unter den 100 Augenzeugen setzte
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