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Die Adler von Lübeck: Historischer Roman

Die Adler von Lübeck: Historischer Roman

Titel: Die Adler von Lübeck: Historischer Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert Klugmann
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kraftvolles Mutmaßen ein. Die schwere nordische Mentalität, der Spökenkiekerei sonst abhold, zeigte sich imstande, ungewöhnliche Mutmaßungen zu äußern, die der Nebenmann und die Nebenfrau mit einer weiteren Prise Unwahrscheinlichkeit würzten, sodass nach wenig mehr als einer Stunde an der Zukunft kein Zweifel mehr bestand.
    Hier entstand etwas Neues und Großes. Und es entstand nicht aus dem hohlen Bauch. Heute war nicht der erste Tag, an dem man sich auf der Werft mit dem Neuen beschäftigte. Die Planken stammten nicht aus der erstbesten Tischlerei, es handelte sich um passend zugeschnittenes Holz für Oberdeck und Galerie.
    Nicht jeder Augenzeuge kannte sich mit dem Schiffbau aus. Aber auch der Unwissende wusste manches, schließlich befand man sich am Meer, Schiffe und die Herstellung von Schiffen waren auch für diejenigen Teil ihres Alltags, die nicht unmittelbar mit der Seefahrt befasst waren. Und eine Handvoll Männer unter den Zaungästen besaß intime Kenntnisse von den Verhältnissen und Möglichkeiten auf einer Werft. Binnen Kurzem entstand der Wunsch nach Einzelheiten, er wurde dringender und lauter. Obwohl Querner und seine Leute keine Zeit fanden, um sich den Fragen zu stellen, kam doch einiges zusammen, der Extrakt der flüchtigen Antworten wurde flink zu einem Einspänner getragen, der in einiger Entfernung stand. Eine einzige Person saß in der Kutsche, der Informant stand an der geöffneten Tür und wiederholte das, was er wusste, auch wenn sein Gesprächspartner zum achten Mal sagte: »Das kann nicht sein. Ihr habt getrunken.«
    »Ihr könnt Euch gern selbst erkundigen, wenn Ihr mir nicht glaubt.«
    Diese Vorstellung war für den Reeder Schnabel undenkbar. Er wollte den Irren auf der Werft nicht auch noch die Aufwartung machen. Alles, was er wollte, waren Informationen: harte und nüchterne Zahlen, die dafür sorgten, dass vor dem geistigen Auge des Fachmanns ein Bild des künftigen Schiffs entstand. Wichtige Zahlen fehlten noch, aber das, was Schnabel erfuhr, trieb das Blut erst aus seinem Kopf heraus und dann mit doppeltem Schwung in den Kopf zurück.
    »Also hat sie doch nicht geschwindelt«, knurrte er.
    Es gab einiges, das Schnabel verabscheute. Dazu gehörte vor allem, wenn man ihn hinters Licht führen wollte. In diese Kategorie fiel das, was Anna Rosländer ihm vor zehn Tagen mitgeteilt hatte. An dem Tag, an dem Schnabel ihr seinen uneigennützigen Vorschlag unterbreitet hatte. Er hatte der Witwe angeboten, ihr Unternehmen zu kaufen - für gutes, wenn auch nicht für beliebig viel Geld. Er hatte ihr angeboten, alle Leute zu übernehmen, denn er hatte in Erfahrung gebracht, mit welch mütterlichen Gefühlen sie noch am faulsten ihrer Männer hing. Schnabel war nicht davon begeistert, sich unfähige Faulpelze ans Bein zu hängen. Mittelfristig würde er sich der Faulpelze entledigen. Aber nicht morgen und übermorgen, denn er wusste, dass selbst eine alte Handelsstadt wie Lübeck voller Menschen war, die sich von Gefühlen statt von Geschäften lenken ließen und gern bereit waren, so zu tun, als ob Wohl und Wehe der Stadt am Schicksal eines hinkenden Zimmermanns hingen, dem einmal zu oft ein Brett auf Bein und Schädel gefallen war.
    3.000 Taler hatte er der Witwe angeboten, denn es war natürlich, eine Zahl zu nennen. Zahlen waren für einen Kaufmann wie Komplimente. Wie ein Liebesgedicht. Eine Zahl drückte Wertschätzung oder Geringschätzung aus, im niedrigsten Fall Verachtung.
    Schnabel band für die Witwe einen Strauß seiner Hochachtung. In dem Strauß steckte eine Rose – die Zahl –, ein Vergissmeinnicht – die Zusage, für alle Angestellten zu sorgen –, ein Immergrün – das Versprechen, dass die Werft und das Andenken an den toten Reeder weiterleben würden –, und ein Tausendschönchen – die Aussicht, dass die Werft wachsen würde und Anna bis ans Ende ihrer Tage gerührt ins Spitzentuch weinen konnte, wenn ihr beim Spaziergang auf dem Hochufer nördlich von Travemünde ein Schiff begegnen würde, bei dessen Anblick sie denken konnte: »Mein Schiff«.
    Dem Reeder Schnabel war solch rührselige Sicht auf die Welt fremd. Vor Augen war vor Augen, untergegangen war wie nie gewesen. Existent war, worauf er die Hand legen konnte, Plunder war, was Frauen zum Weinen brachte. Der Mann war nicht dumm, er hatte das Gefühlige der Frauen in die Rechnung seines Lebens einbezogen: Nur deshalb hatte er geheiratet, damit das erste Kind nicht in der Schande zur Welt kommen

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