Die Äbtissin
alles geliebt hatten, hatte zugelassen, dass seine Töchter ohne die Wärme einer Familie und die Liebe einer Mutter aufwuchsen, etwas, in dessen Genuss selbst die geringste Kreatur der Schöpfung kam.
Sie hatte keine Lust mehr zu weinen. Der Kummer war einer Kälte gewichen, die sie erschreckte. Sie empfand weder Liebe noch Hass. In diesem Moment, in der Stille der Kapelle, fasste sie den Entschluss, herauszufinden, wer sie wirklich war, koste es, was es wolle, wo ihre Wiege gestanden hatte, wer ihre Familie war, sie wollte die Gründe erfahren, die einen so hohen Herrn dazu bewegt hatten, die gebührende Treue gegenüber seiner Gemahlin zu vergessen, und vor allem wollte sie wissen, wer ihre Mutter war, von der sie nicht einmal mehr den Namen wusste, und was aus ihr geworden war.
Nun, da sie sich besser fühlte, verließ sie die Kapelle und ging in ihr Studierzimmer, wo die beiden zerstrittenen Bauern auf sie warteten. Sie brauchte nicht lange, um sie zur Vernunft zu bringen und an den Entschluss zu erinnern, den der Rat beim letzten Mal gefasst hatte, der ganz ähnlich gelagert gewesen war. Ein Stück Land war es nicht wert, das Leben aufs Spiel zu setzen, und wenn sie auf ihren Standpunkten beharrten, würde die Sache gewiss ein böses Ende nehmen. Sie bot sich als Vermittlerin an. Das umstrittene Stück Land sollte geteilt werden, und sie würde darüber wachen, dass die getroffenen Abmachungen eingehalten wurden, und sie allzeit an ihre Rechte und Pflichten erinnern.
»Und eure erste Pflicht ist es, für eure Familien zu sorgen und sie nicht ins Elend zu stürzen wie jene beiden Unglücklichen, die ihre Frauen und Kinder der Barmherzigkeit einiger Nonnen überließen.«
María erhob sich und erklärte das Treffen für beendet. Sie läutete das Glöckchen, das auf dem Tisch stand, und sofort erschien Joaquina und bedeutete den Bauern, ihr zu folgen. In diesem Augenblick rief die Glocke zum Refektorium. Sie war schon auf dem Weg zur Tür, als diese aufflog und María die Jüngere hineinstürzte. Die beiden schauten sich an. Sie sahen sich mit neuen Augen, sie waren nicht nur Schwestern im Herrn, sondern auch leibliche Schwestern.
Selbst die Schwester hat man mir all diese Jahre vorenthalten, dachte sie.
María war sich sicher, dass ihre Schwester genauso überwältigt gewesen war wie sie, aber sie wusste auch, dass sie so reagiert hatte, wie Doña Elvira dies von ihr selbst erwartet hatte: demütig und verzeihend.
Ich werde ihnen nie vergehen.
Sie versuchte diesen wenig barmherzigen Gedanken zu verscheuchen, aber als sie die jüngere María umarmte, wurde sie erneut von ihren Gefühlen überwältigt. Sie sprachen nichts, doch während sie sich gemeinsam auf den Weg zum Refektorium machten, spürten sie, dass ein neues Band sie stärker vereinte als je zuvor.
Es waren einige Tage vergangen, seit Doña Elvira ihr das Sendschreiben des Papstes überbracht hatte. Nach außen hin hatte sich nichts in ihrem Leben verändert, und doch war alles anders. Es war ein merkwürdiges Gefühl, wenn ihr morgens beim Aufwachen wieder einfiel, dass sie nicht länger eine namenlose Waise war. Jetzt war sie Doña María Esperanza von Aragón und in ihren Adern floss das Blut von Generationen von Königen, Rittern und hohen Damen.
Sie unternahm jeden Tag lange Spaziergänge in Begleitung ihrer Mentorin, die sich nicht kräftig genug fühlte, um die Rückreise nach Toledo anzutreten. María machte sich große Sorgen um sie, weil sie sehr schwach wirkte, ließ sich aber nichts anmerken, um sie nicht zu ängstigen. Sie hatten nicht wieder über das Thema gesprochen, das Doña Elvira nach Madrigal geführt hatte. Sie beide mieden es. Allerdings versuchte ihre frühere Lehrerin sie in all ihren Gesprächen davon zu überzeugen, ohne Hader hinzunehmen, was die göttliche Vorsehung für sie bereithielt. María hörte ihr aufmerksam und respektvoll zu, doch in ihrem tiefsten Inneren suchte sie weiterhin nach einem Weg, um mehr über ihre Vergangenheit zu erfahren.
Als sie eines Abends auf der Bank unter der Ulme saßen, erzählte ihr die greise Nonne von einem Ereignis, das sich in ihrer Jugend zugetragen hatte.
»Seit fast fünfzig Jahren trage ich dieses Habit«, sagte sie zu ihr, »und ich habe es nie bereut. Ich glaube sogar, dass ich eine gute Nonne gewesen bin.« Sie lachte vergnügt. »Wenn auch nicht immer! Ich war nicht zur Nonne bestimmt, musst du wissen. Ich war die einzige Tochter meiner Eltern, und es wäre
Weitere Kostenlose Bücher