Die Äbtissin
sogar den einen oder anderen Rempler. Er hatte sein Pferd an den Karren gebunden und führte das Zugpferd an der Trense. Sie bogen in die Calle del Medio ein, auch Artekaie genannt, eine gerade, gut gepflasterte Straße. Die Häuser waren drei oder gar vier Stockwerke hoch. Viele waren aus Holz, aber es gab auch solche aus Fachwerk oder Ziegel. María fielen zahlreiche steinerne Bauwerke auf, die eher an Türme oder Paläste gemahnten. An ihren Fassaden prangten große steinerne Wappen.
»Diese Häuser«, erläuterte Don Gonzalo und hob die Stimme, um sich Gehör zu verschaffen, »gehören meistenteils den einflussreichen Familien der Biskaya. In ihnen leben die Linienchefs mit ihren nächsten Verwandten. Es sind wahre Festungen, sehr zum Leidwesen der Stadtväter, denn es ist sehr schwierig hineinzukommen, wenn ihre Bewohner sich weigern, die Türen zu öffnen.«
»Was haben die Stadtväter denn dort verloren?«
»Manchmal kommt es zu Unruhen in den Straßen. Diese gehen fast immer von Mitgliedern zweier gegnerischer Familien aus, die in einen Streit verwickelt sind. Falls es Verwundete oder Tote gibt, müssen die Ratsherren und Gerichtsdiener die Verursacher festnehmen, eine nahezu unmögliche Aufgabe, wenn sich die Schuldigen in ihren Türmen oder in dem Haus eines Verwandten verbarrikadieren. Ursprünglich wurde die Stadtmauer erbaut, um die Stadt vor den Angriffen jener Herren zu schützen, die der Meinung waren, dass Bilbao zu viele Privilegien habe. Doch aufgrund der zahlreichen Belagerungen, Raubüberfälle und Unruhen gestattete man ihnen schließlich, eigene Wehrtürme innerhalb des Berings zu errichten. Um die Wahrheit zu sagen«, schloss der Hauptmann mehr zu sich selbst als an seine Gesprächspartnerin gewandt, »weiß ich nicht, was das größere Übel war, denn nachdem sie einmal in der Stadt waren, organisierten sie ihre Einflussbereiche und spalteten die Stadt in zwei Hälften.«
Wenn er über ein Thema sprechen konnte, bei dem er sich auskannte, war Salazar in seinem Element. Nicht umsonst war er ein Großneffe Lope Garcías de Salazar, jenes gelehrten Mannes, der das Schwert ebenso geschickt zu führen wusste wie die Feder und der zwei Werke hinterlassen hatte: eine Geschichte der Welt seit den Tagen der Schöpfung sowie eine Abhandlung der Adelsgeschlechter der Biskaya. Die Gründung der Stadt Bilbao reichte in das Jahr 1300 zurück. Wegen ihrer außergewöhnlichen Lage war sie den übrigen Städten bald überlegen. Der Handel, die Minen, der Fischfang, der Schiffsbau und das Kunsthandwerk machten aus ihr einen blühenden, wohlhabenden Ort, die Bevölkerung wuchs rasch, und schon bald hatte sie Bermeo überflügelt, das bislang die bedeutendste Stadt der Grafschaft gewesen war. Es dauerte nicht lange, bis die führenden Adelsgeschlechter, auch Andikis oder Jauntxos genannt, dem Land den Rücken kehrten und sich in den Städten niederließen, die sie so erbittert bekämpft hatten. Sie errichteten ihre Wohntürme, kamen zu Macht und Reichtum und besetzten die einflussreichsten Posten.
»Im Grunde hat sich nicht viel verändert. Die Landherren sind zu Stadtherren geworden«, schloss Don Gonzalo mit einer gewissen Ironie. María wusste nicht zu sagen, ob sich der Hauptmann über diesen Umstand freute oder ob er ihn bedauerte.
Plaudernd erreichten sie den Platz vor der Kirche Santiago. María gefiel das harmonische Zusammenspiel zwischen der Kirche und den mehrstöckigen Häusern mit den bemalten Fassaden, die den kleinen Platz umstanden. Rund um die Kirche sowie unter dem Portikus herrschte ein reges Kommen und Gehen von Pilgern, die unschwer an ihren breitkrempigen Hüten, den Umhängen und den Pilgerstäben zu erkennen waren. Viele saßen zwischen den Bettlern und Zigeunern auf dem Boden, um zu schlafen oder ein Almosen zu erbitten.
Am anderen Ende des Platzes hingegen waren Grüppchen von offensichtlich wohlhabenden Männern zu sehen. Sie trugen kurze Umhänge in dunklen Farben und ebenfalls dunkle hohe Hüte statt der spitzen Kopfbedeckungen, die sonst üblich zu sein schienen.
»Wer sind diese Männer?«
»Händler und Reeder, Doña María«, antwortete Salazar. »Mit Ausnahme der Sonntage treffen sie sich jeden Tag auf diesem Platz. Sie reden übers Geschäft.«
»Es ist sonderbar, dass sie dies auf der Straße tun statt in ihren Häusern oder Kontoren.«
»Das tun sie auch, aber die meisten gehören einer Bruderschaft an und nutzen die Gelegenheit, um sich nach dem Angelus darüber
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