Die Äbtissin
María hörte ihr nicht länger zu. Die Jahreszahlen stimmten überein, auch wenn María enttäuscht war, dass der Besuch des Königs sich nicht auf die Stadt Bilbao beschränkt hatte. Jedenfalls beschloss sie, am nächsten Tag mit ihren Nachforschungen zu beginnen.
»Und Joaquina?«, fragte Inés.
»Was ist mit ihr?«
»Sie wird wissen wollen, wohin wir gehen…«
»Wir werden ihr sagen, dass wir deine Verwandten besuchen.«
In den Augen des Mädchens blitzte Angst auf.
»Keine Sorge«, lachte María. »Wir werden sie nicht besuchen, fürs Erste… Außerdem liegt Joaquina nichts daran, das Kloster zu verlassen. Hier fühlt sie sich wohl.«
Am nächsten Morgen gingen die beiden Frauen zur Kirche Santiago. Der Pfarrer, ein freundlicher, hilfsbereiter junger Priester, versuchte ihnen so gut er konnte zu helfen, doch er war nicht alt genug, um sich an Ereignisse zu erinnern, die vor so vielen Jahren stattgefunden hatten. Erst vor kurzem hatte man begonnen, die Taufen in den Pfarrbüchern zu vermerken, und es gab kein anderes Dokument, das Auskunft darüber gab, ob vor über dreißig Jahren ein Mädchen namens María Esperanza dort getauft worden war. Zudem kannte er die Familien in Bilbao nicht gut genug, um ihnen Auskunft geben zu können.
»Vielleicht solltet Ihr Euch an den Pfarrer von San Antonio wenden«, riet er, als er ihre enttäuschten Gesichter sah. »Er ist ein alter Mann, der immer in der Stadt gewirkt hat, aber er besitzt noch ein gutes Gedächtnis.«
Sie dankten ihm für seine Hilfe und eilten zur Kirche San Antonio Abad, bei den Einwohnern Bilbaos besser bekannt als San Antón. Sie war an der Stelle errichtet worden, wo sich vor Jahrhunderten eine Festung erhoben hatte, und wirkte selbst wie eine Trutzburg, vielleicht, um im Verteidigungsfall erneut als Zuflucht zu dienen. Der Regen der Tage zuvor war einem sonnigen, hellen Tag gewichen, den die Verkäufer nutzten, um ihre Stände draußen auf der Straße aufzustellen und die Vorübergehenden zum Erwerb ihrer Waren zu ermuntern. Auch viele Handwerker boten ihre Dienste an: Silberschmiede, Rüstungsschmiede, Waffenschmiede, Laternenmacher, Töpfer, Bogenbauer und unzählige andere priesen lauthals die Güte ihrer Produkte an. Überall waren Leute und Menschengrüppchen, die sich teilten, um sie vorbeizulassen. Inés schaute nervös nach rechts und links. Sie hatte Angst, von einem Bekannten entdeckt zu werden oder hinter einer Ecke ihren Vetter auftauchen zu sehen.
»Niemand wird dich beachten, Inés«, beruhigte María sie. »Wir sind nur zwei Nonnen, die durch die Straßen wandeln, wir fallen überhaupt nicht auf.«
»Das hoffe ich, ehrwürdige Mutter«, entgegnete Inés flüsternd. »Das hoffe ich…«
Aber sie atmete erst auf, als sie sich in der Kirche San Antón befanden.
Don Martín, der Pfarrer, war ein alter, gebeugter Mann, der zudem nur schlecht hörte. Sie mussten den Grund ihres Besuchs mehrmals vortragen, bevor er sie endlich in die Sakristei eintreten ließ.
»Habe ich recht verstanden?«, fragte er mit rauer Stimme. »Ihr seid auf der Suche nach einem Mädchen, das womöglich im Jahr 1477 getauft wurde?«
»So ist es«, antworteten die beiden wie aus einem Munde.
»Und weshalb wollt Ihr das wissen?«
»Wir haben einer unserer Mitschwestern versprochen, in Erfahrung zu bringen, ob noch jemand von ihrer Familie am Leben ist.«
Eine glatte Lüge, dachte María, aber ich bin ihm keine weiteren Erklärungen schuldig.
»Und wer seid Ihr?«, fragte der Pfarrer weiter, während er sie von oben bis unten musterte.
»Ich bin die Äbtissin des Klosters Nuestra Señora de Gracia in Madrigal.«
»Madrigal? Das kenne ich nicht. Ist das ein Ort in der Grafschaft?«
»Nein, Euer Hochwürden.« María begann ungeduldig zu werden. »Madrigal liegt bei Ávila und…«
»Aber Ihr seid von der Biskaya?«, unterbrach Don Martín.
María wappnete sich mit Geduld. Sie war nie gerne ausgefragt worden, erst recht nicht von einem alten Priester, dem Inés übersetzen musste, was er auf Kastilisch nicht verstand.
»Nein, ich bin nicht von der Biskaya.«
»Aber Ihr seht so aus… Ihr erinnert mich an jemanden, doch ich weiß nicht, an wen. 1477, sagtet Ihr?« Er kehrte zum ursprünglichen Thema zurück, ohne sie aus den Augen zu lassen.
»Ja, ungefähr.« María war nun bald mit ihrer Geduld am Ende.
»Und wie, sagtet Ihr, hieß das Mädchen?«
»María Esperanza…«, antwortete sie fast unhörbar.
»Und der Name der Eltern?«
Inés und
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