Die Äbtissin
die Landschaft. Es war ein friedlicher, stiller Ort, auch wenn zuweilen des Nachts Lärm und Aufruhr von der anderen Seite der Mauer zu vernehmen war, der von den Kämpfen zwischen den verfeindeten Parteien herrührte, von denen Hauptmann Salazar erzählt hatte, oder auch von einem Zechgelage, das von der ausschweifenden Lebensfreude in der Stadt kündete.
Joaquina war glücklich und fühlte sich geborgen hinter diesen Mauern. Aber María wusste, dass der Gedanke daran, dass sie irgendwann dieselbe Reise in umgekehrter Richtung würden unternehmen müssen, ihre gute Laune zuweilen verdüsterte. Bis es so weit war, genoss Joaquina die Gesellschaft der Ordensschwestern, die Sauberkeit und das gute Essen, doch sie vermisste das Kloster von Madrigal und das kastilische Klima.
»Hört es denn in dieser Stadt niemals auf zu regnen?«, fragte sie oft, unglücklich über die mangelnde Sonne.
»Wir haben Frühling«, antwortete Orosia, die Hauswirtschafterin. Sie trug den Namen einer baskischen Heiligen, die in Huesca den Märtyrertod erlitten hatte. »Seht Ihr nicht, wie grün unsere Felder und unsere Berge sind? Das kommt vom Regen.«
»Weniger Grün und mehr Sonne wäre besser«, beharrte Joaquina. »Man wird ja gar nicht mehr trocken!«
Das regnerische Klima machte empfänglich für Melancholie. Inés war traurig und nur schwer aufzuheitern. Stundenlang betrachtete sie das still dahinfließende Wasser in der Bucht von Nervión. Mehr als einmal hatte María sie dabei ertappt, wie sie zum Turm der Salazars hinüberschaute, dessen obere Stockwerke vom Kloster aus gut zu sehen waren. Sie war überzeugt, dass die Gedanken des jungen Mädchens bei dem Hauptmann weilten und dass sie schon zu ihm geeilt wäre, hätte sie nicht befürchtet, ihrem Vetter oder einem anderen ihrer Verwandten zu begegnen, die sie so sehr zu fürchten schien. María beschloss, mit ihr zu sprechen, denn die Zeit war gekommen, sich ans Werk zu machen, und sie würde sie bei ihren Nachforschungen brauchen. Eines Abends rief sie die Novizin nach der Vesper in ihre Zelle und bat sie, die Tür hinter sich zu schließen.
Sie erzählte ihr einen Teil ihrer Lebensgeschichte, oder vielmehr das, was sie darüber wusste. Sie eröffnete ihr sogar den Namen ihres Vaters, König Ferdinand. Die Augen des Mädchens wurden immer größer, aber es sagte nichts und hörte wortlos zu.
»Das ist unglaublich!«, rief sie schließlich, als María zu Ende erzählt hatte. »Es ist die unglaublichste Geschichte, die ich jemals gehört habe. Ihr, eine Prinzessin…«
»Nicht ganz, meine Liebe. Nicht ganz… Nur die Tochter eines Königs, der mich mehr als dreißig Jahre nach meiner Geburt anerkannt hat. Aber nun geht es mir vor allem darum, die Familie meiner Mutter ausfindig zu machen, und dabei benötige ich deine Hilfe.«
»Ich werde Euch helfen, so gut ich nur kann. Wo sollen wir beginnen? An wen sollen wir uns wenden? Glaubt Ihr, Eure Mutter stammte aus Bilbao?« Sie ließ María keine Zeit, ihre Fragen zu beantworten. »Zunächst einmal müssen wir jemanden befragen, der… ich weiß nicht… jemand muss uns doch Auskunft geben können!«
María lächelte. Die Aussicht auf das Abenteuer hatte wieder Farbe in das Gesicht des Mädchens gebracht. María hatte lange darüber nachgedacht, wie sie vorgehen sollten. Zunächst mussten sie durch Orosia, die stets zu einem Plausch aufgelegt war, in Erfahrung bringen, ob König Ferdinand tatsächlich einmal in Bilbao gewesen war, wie Don Alvaro Fernández ihr erzählt hatte. Die Hauswirtschafterin war schon lange den Jugendjahren entwachsen, hatte jedoch ein ausgezeichnetes Gedächtnis.
»Soweit ich mich erinnere«, sagte sie, »ist er einmal hier gewesen, als ich gerade den Schleier genommen hatte. Er kam, um im Namen der Königin auf die Fueros zu schwören, und es fanden große Festlichkeiten statt.«
»Wann ist das gewesen?«
»Lasst mich überlegen… ich bin mit zwanzig ins Kloster eingetreten, und nun bin ich achtundfünfzig. Es muss vor ungefähr fünfunddreißig Jahren gewesen sein«, folgerte sie zufrieden.
»Hielt er sich nur in der Stadt auf?«, fragte María, während ihre Aufregung wuchs.
»Er bereiste auch einen Teil der Grafschaft. Von Bilbao über Larrabetzu und Bermeo bis Gernika.«
Orosia begann ihr zu erklären, weshalb der Herr, in diesem Fall die Herrin der Biskaya – denn das war die Königin von Kastilien – auf die Fueros schwören musste, wollte sie von den Biskayern anerkannt werden, aber
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