Die Ängstlichen - Roman
leichenblass und eilte an ihr vorbei schnurstracks in Richtung Fernsehzimmer. »Ich muss mich sofort hinlegen!«
Mit wenigen Handgriffen hatte Rainer die Decke über sich gebreitet und im Liegen die Schuhe abgestreift, als es in seinem Inneren von neuem zu rumoren begann. Er warf die Decke ab, erhob sich und lief ins Bad, und diesmal musste er sich erbrechen.
Zwischen den Krämpfen (ein Gefühl, als öffne und schließe sich im Minutentakt eine Faust in seinem Magen) versuchte er, sich auszuruhen, indem er sich der Länge nach auf dem Badezimmerboden ausstreckte. Doch statt Linderung fühlte er, wie die Intervalle sich stetig verkürzten und die Krämpfe sich in einen anhaltenden dumpfen Schmerz zu wandeln begannen.
»Ich hab dir ein bisschen von dem Tee geholt, den ich mirheute morgen gemacht habe«, sagte Ulrike, was offenbar aufmunternd klingen sollte. Plötzlich hatte sie mit einer Tasse in der Hand im Badezimmer vor ihm gestanden und schaute nun seltsam bedrohlich auf ihn herab. »Schwarzer Tee ist gut bei Durchfall und Erbrechen!«, sagte sie. In der anderen hielt sie eine Scheibe goldbraun leuchtenden Zwieback.
Geschüttelt von Serien frostiger Schauer, die seinen Rücken langsam mit einer dünnen konsistenten Eisschicht zu überziehen schienen, rappelte er sich auf, nippte unter Schmerzen und mit vor dem Bauch verschränkten Fäusten an der ihm hingestreckten Tasse, sank aber bereits im nächsten Moment wieder auf den Boden.
Dann erbrach er sich so lange, bis sich unter den hellen Schleim Gallenflüssigkeit zu mischen begann und der Strom seiner Magensäfte versiegte.
»Du Ärmster!«, sagte Ulrike und biss nun selbst in den Zwieback. »Das sieht ja nach einer ordentlichen Magenverstimmung aus, mein Gott«, murmelte sie mit halb vollem Mund. Dabei dachte sie mit Blick auf den sich am Boden krümmenden Rainer nicht unzufrieden: Gar nicht so übel, das augenblickliche Kräfteverhältnis! Und während er sich weiter wand, lief sie rasch zum Briefkasten, zog dessen Klappe hoch und linste forschend durch den Schlitz. Der Kasten war leer.
»Aha!«, hauchte sie selbstgerecht, machte auf dem Absatz kehrt und wurde überflutet von einer Welle der Zufriedenheit. Zurück im Bad, aber musste sie feststellen, dass Rainer verschwunden war.
»Rainer? Schatz?«, rief sie in die dämmrige Stille des Erdgeschosses hinein, nur im Bad und im Fernsehzimmer brannte Licht. »Wo bist du?«
Sie schaltete die Flurlampe ein. Im selben Moment stieß sieam Sockel der Treppe, die hinauf zum Schlafzimmer und zu den ehemaligen Kinderzimmern führte, auf Rainers Socken, die er aus irgendeinem Grund genau dort ausgezogen hatte.
Als sie kurz darauf mit den Strümpfen in der Hand im Schlafzimmer stand, rührte sie, was sie da im schwachen Schein seines Nachttischlämpchens zu sehen bekam: Rainer lag schlotternd und mit bis zu den Ohrläppchen hinaufgezogenem Plumeau in ihrem Bett. »Oah, ist mir kalt!«, stöhnte er. »Hilf mir, bitte, bitte!«
Beseelt bauschte sie die Socken in ihrer Hand zu einer widerspenstigen Kugel, entblößte ihre Schneidezähne und erwiderte leise triumphierend: »Aber natürlich, mein Schatz! Dafür bin ich doch da!«
W ie eine vergiftete Forelle, die kurz vor dem Exitus noch einmal an die Wasseroberfläche taucht, schnappte Konrad in immer kürzeren Abständen nach Luft.
Das Licht vor dem Fenster schien zu schwinden, das jedenfalls glaubte Konrad, wenn er reflexartig die Augen aufriss und in milchiges Grau starrte. Ohne die beschädigte Brille auf dem Nachttisch war alles nebelhaft (aber mit ihr eigentlich auch).
Konrad war schweißgebadet und wurde von Halluzinationen geschüttelt. Wirre Bilder geisterten über seine Netzhäute, und um die Wangen und das Kinn hatten sich die Stoppeln zu einem dichten Bart geschlossen. Manchmal strich er sich verwundert darüber.
Das Pulsieren in seinem Bein war zu einem Trommeln geworden, das seinen ganzen Körper durchdrang. Immer wieder schrie er auf. Die Vorstellung jedoch, in Kürze Erlösung zufinden (an der er unverändert festhielt und die, wie er glaubte, in der Ankergasse auf ihn wartete), ließ ihn den Schmerz, so groß und anhaltend er auch sein mochte, aushalten.
Manchmal flossen Bilder von Holland durch sein erregtes Bewusstsein: Lieblingsbilder, Sehnsuchtsbilder, blitzlichthelle Momentaufnahmen von weit gestreckten, hitzeflimmernden Ebenen vor schier endlosem Himmelblau. Und davor bis zu den Kotflügeln in magischgelben Rapsfeldern versinkende
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