Die Ängstlichen - Roman
»Achtzig Prozent dessen, was gedruckt wird, ist das Papier nicht wert, auf dem es steht. Fünfzehn Prozent sind eher lau, und für die restlichen fünf Prozent interessiert sich kein Schwein!« –, wusste keiner so gut wie Kaplan selbst. Trotzdem sperrte er seinen Laden in der Vorstadt jeden Morgen wieder auf.
Ben konnte sehen, wie sein hungriger Verstand arbeitete. »Außerdem bin ich der Meinung«, holte Kaplan aus, der die Zigarette in Brand setzte und einen ersten kräftigen Zug nahm, »dass es, um zu überleben, zweckmäßig ist, in allen Dingen skeptisch zu bleiben. Da draußen herrscht Krieg, und niemand weiß, wer am Ende die Nase vorn hat.« Die erste dichte Qualmwolke aus Kaplans Richtung trieb auf ihn zu.
Noch immer klangen Kaplans Ethnologensätze so, als erläutere er eine fremde Kultur. Sein massiges, aus mehreren Speckschichten zusammengesetztes Gesicht wirkte, als sei es aus Plastik. Die breiten, ungetrimmten Koteletten schienen diesen Eindruck noch zu verstärken. Doch wer glaubte, in Kaplan einen einfältigen Dicken vor sich zu haben, irrte gewaltig. In Wirklichkeit verbarg sich in diesem freundlichen Fettkloß ein drahtiger, äußerst wendiger Charakter, dessen messerscharfer Geist darin eingelagert war wie eine Goldader in einem Felsbrocken. Neuerdings trug Kaplan eine Brille, ein braunes, ziemlich wuchtiges Kassengestell, hinter dessen eckigen Gläsern seine Pupillen schwammen wie ein Black-Molly-Pärchen hinter Aquariumglas. Ein Grund mehr, ihn zu unterschätzen.
»Du sitzt zwischen zwei Feuern«, sagte Kaplan, kratzte sich den Bauch und paffte genüsslich kleine Rauchkringel in die Luft. »Klarer Fall von Lose-Lose-Situation.«
»Du hast gut reden«, sagte Ben, der Kaplan von seinen Problemen zunächst vage, im Verlauf ihrer Unterredung aber schließlich ziemlich ungeniert erzählt hatte, »hockst hier zwischen deinen Büchern und lässt das Leben an dir vorbeiziehen. Doch ich, ich stecke mittendrin!«
»Ansichtssache«, konterte Kaplan trocken, wobei seine Augen, nun, da er kurz die Brille abgenommen hatte, an matt gewordene Glasscherben erinnerten. »Wir können gern mal tauschen.«
»Nichts lieber als das«, erwiderte Ben und griff sich das oberste der vor Kaplans Schreibtisch auf dem Boden gestapelten Bücher, einen Heyne-Ratgeber mit dem Titel »Denken Sie sich schlank! In 21 Tagen abnehmen ohne Diät«.
»Hier, was für dich!«, sagte er und schob Kaplan das Buch hin.
»Oh, danke, wie aufmerksam von dir!«, erwiderte der und legte den Band mit angedeutetem Zähneblecken beiseite. Eine kurze Pause entstand. Dann sagte Ben: »Ich bin nicht gekommen, um mir moralische Aufrüstung zu holen, wenn du das meinst.«
»Aber natürlich bist du das«, antwortete Kaplan geradeheraus und hantierte mit einer neuen Zigarette. »Ich rieche deine Angst doch bis hierher!«
»Mache ich so einen miserablen Eindruck auf dich?«, sagte er überrascht.
»Schlimmer! Wie eine Witwe vor der Beerdigung!«, witzelte Kaplan, schob die Brille zurück auf die Nase und sah Ben forschend an. »Sieh’s doch mal so: Frauen kommen und gehen, Freunde kommen und gehen, die Liebe kommt und geht. Nur ich sitze bis in alle Ewigkeit hier an meinem Platz und wartedarauf, dass die Tür aufgeht und mir jemand ein Buch abkauft oder sein Herz ausschüttet. Mit Bücherverkaufen hat das, was ich hier mache, doch schon lange nichts mehr zu tun. Ich sollte anfangen, für meine Beratungsgespräche, die ich tagtäglich mit Gott und der Welt führe, Rechnungen zu schreiben.«
»Aber was soll ich denn machen, Robert?«, fuhr Ben dazwischen. »Es ist ja schon schlimm genug, was ich von Iris verlangt habe. Aber viel schlimmer ist, dass ich am Ende womöglich beide verliere, sie und Janek.«
In der fettig glänzenden Stelle über Kaplans breiter Nasenwurzel entstand eine tiefe Kerbe. »Also gut, mein Lieber«, begann er mit ernster Miene, »ich sehe dein Problem, und vielleicht denkst du jetzt, ich bin zu unsensibel, um mich mit solch prosaischen Dingen wie Gefühlen auseinanderzusetzen. Aber du weißt ja, dass ich wenig von Ausflüchten halte. Wenn du mich fragst, geh hin zu ihr und blas diesen ganzen Unsinn ab! So was ist drei Nummern zu groß für euch! Und lass vor allem die Frau da raus.«
»Aber wie soll ich … ich meine.« Hier stockte Bens Stimme.
»Ja, was denn nun? Jammern oder handeln?«, sagte Kaplan und fügte sogleich hinzu: »Überleg dir, ob du dieses Spiel wirklich bis zum Ende mitspielen willst, Ben. Lass die
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