Die Ängstlichen - Roman
keine Menschenseele mehr ihren Fußsetzte, lief in die Küche und goss das dampfend heiße Wasser in den Edelstahlfilter mit den kräftig nach Vanille duftenden Teeblättern.
H elmut hob die Augenlider, argwöhnisch und zögerlich. Kaum dass er sie ganz geöffnet hatte, kniff er sie wegen der blendenden Helligkeit wieder zu, blinzelte, nahm einen neuen Anlauf und trotzte dem Gleißen schließlich mit leicht zusammengepressten Lidern.
»Wo bin ich?«, dachte er überrascht, unfähig, sich zu bewegen. Seine Zähne fühlten sich stumpf an, sein Unterleib war wie abgeschnitten vom Rest, seinem Bauch, den Schultern und dem Hals. Durch seine Beine zuckten in unregelmäßigen Wellen kleine elektrische Ladungen, und seine Augäpfel brannten, begleitet von milchigen, über die Netzhäute huschenden Schleiern.
»Was haben die mit mir gemacht?«, fragte er sich. Doch dann fiel, mit einer schwerfälligen Rechtsdrehung seines Kopfes, sein Blick auf den kleinen Tisch, auf dem eine Vase mit freundlich leuchtenden Chrysanthemen stand, und er begriff erleichtert: Ich habe es überstanden und liege in meinem Krankenzimmerbett. Und noch im selben Moment durchströmte ihn ein Gefühl der Dankbarkeit, als wäre er aus tiefem Wasser endlich wieder an die Oberfläche getaucht.
Doch was war mit seinen Händen? Wie zum Gebet gefaltet, lagen sie reglos auf seinem Bauch. Helmut erschrak und dachte: Also doch das Jenseits? »Aber wieso denn?«, rief er empört in die Stille des sonnendurchfluteten, zartrosa gestrichenen Zimmers hinein, an dessen Stirnseite über der Tür ein Kruzifix hing.
»Halt! Nein!«, krächzte er mehr, als dass er rief, und versuchte, sich aufzurichten. Denn plötzlich beschlich ihn derentsetzliche Verdacht, man könne ihn für tot gehalten und ihm deshalb die Hände gefaltet und in dieses weltenferne Zimmer abgeschoben haben.
Beunruhigt versuchte er aufs Neue, sich aufzurichten, um das Bett zu verlassen und hinaus auf den Flur zu laufen und sich bemerkbar zu machen. Doch die Muskeln verweigerten ihm ihren Dienst, und so harrte er missmutig aus.
Jetzt bemerkte er, dass er Durst hatte, großen Durst. Seine Lippen fühlten sich rissig und spröde an, wenn er mit der Zunge darüberstrich, und sein Mund war vollkommen ausgetrocknet.
»Hallo! Hallo!«, rief er zögerlich in Richtung Flur. Doch niemand schien ihn zu hören.
»Hallo!«, rief er noch einmal, diesmal lauter. Aber auch diesmal ohne Erfolg. Da fiel sein Blick auf den Klingelknopf neben seinem Bett (und die Otriven-Flasche).
Er langte mit den Fingern nach dem Knopf, bekam ihn zu fassen und drückte, so fest er konnte. Dabei horchte er gebannt auf die Stille und dachte: Nur jetzt nicht einschlafen, sonst schaffen sie dich noch fort, ins Krematorium oder sonst wohin.
Sekunden verstrichen, ohne dass jemand kam oder sonst etwas geschah, schwollen zu einer peinigenden kleinen Ewigkeit an. Schließlich wuchtete er sich aus dem Bett, lief aber zu seiner eigenen Überraschung nicht hinaus auf den Flur, sondern ans Fenster, davon geblendet und angezogen wie ein Windenschwärmer von einer Halogenlampe.
Mit zusammengekniffenen Lidern spähte er in die gleißende Helligkeit, aus der sich langsam die Fassade des Hanauer Landgerichts mit ihren zahlreichen Fenstern und schließlich die Nußallee mitsamt ihrem zähen Vormittagsverkehr herausbildete. Im Sonnenlicht blitzten Fahrzeuge, die herannahten, größer wurden und sich kurz in sein Sichtfeld schoben und wieder daraus verschwanden.
Helmut atmete erleichtert auf. Er war sekundenlang wie berauscht von dem, was er sah. Die friedliche Gleichförmigkeit eines Lebens, das er plötzlich mit jeder Faser seines geschwächten Körpers bejahte.
Offenbar hatte alles seine Richtigkeit. Und mit einem Mal durchfuhr ihn ein wilder lautloser Jubel angesichts dessen, was er sah: ein Kind, ein kleines Mädchen, das an der Hand seiner Mutter unten vorbeilief und mit der anderen, freien Hand einen blauen, an einer Schnur befestigten Luftballon hielt, der mit immer neuem Rucken erfolglos versuchte, gen Himmel aufzusteigen.
Hanau schimmerte bunt und frisch, als hätte es das Unwetter mit all seinen Verwüstungen und Opfern reingewaschen, und auf einmal begriff er, wie sehr er in Wahrheit an dieser Stadt hing, die ihm so vieles geschenkt hatte: Erfolg, Ansehen, Freunde und, ja, ein eigenes Haus, das ihm Sicherheit und Schutz bot vor den unwägbaren Launen der Elemente. Wie eine Schar Gummibälle waren die Wassermassen und
Weitere Kostenlose Bücher