Die Ängstlichen - Roman
für ihr plötzliches Verschwinden gehabt hätte. Immer wieder dachte er daran, sie in der Bank aufzusuchen und zur Rede zu stellen, wirklich dazu entschließen aber konnte er sich nicht.
Doch was hätte er Iris sagen sollen, sofern er den Mut aufgebracht hätte, ihr in der Bank gegenüberzutreten? Dass er im Begriff war, den Boden unter den Füßen zu verlieren (und inzwischen mit mehr als nur einem Bein in der Verlustzone stand)? Oder dass er in seiner Sorge um Janek (Ja, Herrgottnoch mal, das Geld ist für ihn! Jetzt weißt du es, zufrieden?) mit seiner Bitte an sie einen Schritt zu weit gegangen war?
Natürlich konnte er derartige Erklärungen vorbringen und seine Gefühle für Janek in die Waagschale werfen. Doch wer garantierte ihm, dass Iris das überhaupt noch interessierte? Schließlich hatte er sie ungeniert zu einer kriminellen Handlung gedrängt. Noch dazu hatte er sie mit ihrer Liebe zu ihm erpresst.
Ben hielt es in seinen vier Wänden nicht mehr aus. Er warf sich seine Lederjacke über und überlegte, bei seinem alten Schulfreund Kaplan vorbeizugehen, der in Hanaus Innenstadt die »Lesbar«, ein modernes Antiquariat, betrieb. Während er im Treppenhaus ungeduldig darauf wartete, dass der Aufzug kam, rannte Johanna in der Ankergasse vom Schlafzimmer ins Wohnzimmer, um dort das Fenster zu schließen. Doch sie hatte größte Mühe, die sich im Wind bauschenden und wie störrische Gespenster auf und ab gleitenden Gardinen überhaupt zu fassen zu bekommen. Sie grapschte danach wie ein Kind nach einem entfleuchten Wellensittich, langte mal da-, mal dorthin, tauchte ungeschickt mit in den Nacken gelegtem Kopf ihre hocherhobenen Hände in die flirrenden, ihr Haupt umwehenden Stores und presste schließlich, nachdem sie sie glücklich erwischt hatte, sekundenlang ihr bereits leicht erhitztes Gesicht in den gazeähnlichen, würzig nach Zigarettenrauch riechenden Stoff. (Oh, Janek!)
Der zunehmende Wind blies ihr die kalte Abendluft ins Gesicht, wirbelte aber zu ihrem Ärger trockene Blätter zum Fenster herein. Entschlossen ergriff Johanna den rechten Fensterflügel und drückte ihn in den Rahmen.
Mit herabhängenden Armen und begleitet von einem langgezogenen Seufzer, begutachtete sie das auf dem Teppich liegende Laub, braune, in sich verdrehte Gebilde, die sich von dem hellen Untergrund deutlich abhoben. Dabei konnte siehören, wie in der Küche der Wind im Kamin fauchte, ein an- und abschwellendes Brausen, als blase jemand kräftig in die Muschel eines Telefonhörers. Doch als sie sich keine zwei Minuten später, mit Schaufel und Besen in der Hand, daranmachte, die trockenen Blätter zusammenzufegen, stockte ihr der Atem. Denn als sie mit dem Besen gegen die Blätter stieß, begannen diese sich, eines nach dem anderen und wie von Geisterhand bewegt, zu regen und aufzuflattern.
Verwirrt ließ sie Schippe und Besen fallen und schlug im Halbdunkel des Zimmers so lange mit bloßen Händen nach dem sie umschwirrenden Getier (das sie ohne Brille doch tatsächlich für gewöhnliche welke Blätter gehalten hatte), bis sie sich ins Schlafzimmer flüchtete, wo sie eilig die Tür hinter sich schloss und entkräftet aufs Bett sank.
Als sie vor dem Zubettgehen noch einmal hinüber ins Wohnzimmer lief, um nach dem Rechten zu sehen, lag, wie von einem Kind willkürlich darauf verteilt, eine Handvoll welke dunkelbraune Kastanienblätter auf dem wirsingfarbenen Untergrund. Mit ihrer Brille auf der Nasenspitze begutachtete Johanna eine Weile ungläubig, was sie sah oder zu sehen glaubte, bevor sie kopfschüttelnd das Licht löschte.
N ichts bleibt so, wie es ist«, sagte Kaplan mit einem fatalistischen Grinsen und hielt ein orangefarbenes Bic-Feuerzeug in der Hand. Er lehnte sich in seinem quietschenden, ziemlich durchgesessenen Drehsessel zurück und klebte sich mit der anderen zielgenau eine selbstgedrehte filterlose Zigarette an die Unterlippe. Über seinem exorbitanten Bauch spannten rechts und links zwei rot-blau karierte Hosenträger. »Du bist doch eigentlich alt genug, um das zu wissen, oder?«
Robert Kaplan war der Sohn eines Winzers aus Trier, trank gern Bier, liebte französische Küche und besaß den nüchternen Blick. Ein unerschütterlicher Realist, dessen scharfsinnige Diagnosen schon im Gymnasium für Furore gesorgt und ihm später, als er ins linke Milieu abdriftete, den Ruf eines unbestechlichen Vordenkers eingetragen hatten. Dass er mit seinem Buchhandel auf verlorenem Posten kämpfte –
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