Die Ängstlichen - Roman
Traktoren, »Penny Lane« von den Beatles im Ohr und, wohin das Auge blickt, goldbraune Strohräder in den knochentrockenen Wiesen in seinem Glücksholland, damals, in jenem sagenhaften Sommer neunzehnhundertirgendwas, in dem er frei und noch alles möglich gewesen war.
Bei seiner Ankunft hatte eine Flasche Wasser auf dem Tisch gestanden, daneben ein umgestülptes Glas. Er hatte einen Schluck getrunken, das Glas aber seither nicht mehr beachtet. Nun erschien es unerreichbar fern und wie eine Frucht seiner überreizten Phantasie.
Konrad setzte sich mit letzter Kraft auf und streckte seinen schwankenden Arm danach aus. Seine Finger zitterten, als er das Glas berührte. Er hob es an sein Gesicht und atmete das flüchtig calciumhaltige Aroma des Wassers ein. In dem Moment aber, als er den Rand des Glases an seinen flatternden Lippen spürte, glitt es ihm aus der Hand und fiel mit einem trockenen Ploppen auf den Boden.
Wimmernd ließ er sich zurückfallen, schloss die Lider und leckte sich die rissigen Lippen, um vielleicht einen Rest Wasser zu erhaschen. Zum Schutz vor dem Tageslicht legte er den rechten Arm vor die Augen.
Ein paarmal, wenn der Schmerz unerträglich wurde, dachte er: Das war’s! Es ist so weit! Und dabei war er weder wütend noch verzweifelt, eher enttäuscht. Irgendwann aber sagte ersich: Ich gewöhne mich daran. Anschließend fiel er wieder in seinen komaähnlichen Dämmer.
Gegen zwei störte ihn das Heulen des Windes auf, der an den Regenrinnen zerrte. Konrad lag stocksteif im Dunkeln und hörte, wie Regentropfen an die Fensterscheiben schlugen. Der Wind drückte manchmal so fest gegen die Fenster, dass die Rahmen ächzten. Vom Flur drangen Gelächter und Geflüster herein, und eine Frauenstimme sagte kichernd: »Nicht hier, Klaus, bitte!« Dann eine Männerstimme, die erwiderte: »Ach komm schon, Liz! Hab dich nicht so.«
Es folgten Lachen und Gemurmel, das Gepolter von Schritten. Bis die Frauenstimme mit gespielter Empörung zischte: »Hörst du nicht? Wenn uns jemand sieht.«
Konrad spitzte die Ohren in der Stille des Zimmers, hörte, wie die beiden sich lachend entfernten und am Ende des Flurs eine Tür aufgeschlossen wurde. Kurz darauf verstummte das Gelächter.
Dann sackte er von neuem in die Schwärze und schlief bis zum Morgen. Wenn er mit dem verletzten Bein gegen den Bettpfosten stieß oder sich auf die geprellte Hüfte drehte, schrie er im Schlaf auf.
Als er erwachte, floss trübes Tageslicht herein. Er schob das verwundete Bein unter der Decke hervor, um es zu kühlen, das andere winkelte er an. Die Lider brannten, seine Haut juckte am ganzen Körper, und die Zunge schien am Gaumen festzukleben. Doch jetzt war etwas anders: Der Schmerz ließ ihn kalt, er gehörte längst zu jemand anderem. Von beträchtlichen Mengen körpereigener Endorphine überflutet, trieb er in einem Zustand unechter Glückseligkeit. Alles war schmerzfrei, schwerelos, still. Bis er im Hintergrund ein Geräusch vernahm, Schritte, die näher kamen. Dann drehte sich ein Schlüssel, und die Tür sprang auf.
D ie Bilanz der letzten Tage war niederschmetternd. Bossert, der Leitende Sportredakteur der »Badischen Zeitung«, hatte Ben sein Porträt des Torwarts der deutschen Handballnationalmannschaft, Henning Fritz, den er im Vorfeld der in Portugal stattfindenden Weltmeisterschaft interviewen konnte, mit der barschen Formulierung »Wir drucken keine Dubletten!« per Mail retourniert (offensichtlich hatte er Bens wortgleichen Artikel in der »Frankfurter Rundschau« gesehen) und ihre Zusammenarbeit damit für beendet erklärt. (»Außerdem möchte ich Sie bitten, uns fortan mit weiteren Textangeboten zu verschonen!«) Und am Vorabend hatte der Automat an der Hauptpost seine EC-Karte geschluckt (an Bargeld waren ihm läppische 113 Euro geblieben). Zu allem Überfluss hatte die Deutsche Telekom ihm am Morgen auch noch seinen Telefonanschluss gesperrt. Am meisten Kopfzerbrechen aber bereitete ihm die Tatsache, dass er seit drei Tagen nichts von Iris gehört hatte. Wenn er sie anrief (ganz gleich, zu welcher Tageszeit), sprangen der Anrufbeantworter oder ihre Mailbox an. »Ich bin gerade nicht zu Hause, aber wenn Sie eine Nachricht hinterlassen, werde ich Sie zurückrufen, sobald ich kann. Versprochen.« Ein paarmal hatte er ihre Nummer gewählt, um ihre Stimme zu hören, und hatte in seinem Wagen vor ihrem Haus auf sie gewartet, vergebens. Die Fenster ihrer Wohnung blieben dunkel, ohne dass er eine Erklärung
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