Die Ängstlichen - Roman
anderen ihre Fehler ruhig machen. Aber schlag dir aus dem Kopf, der Retter der Welt zu sein. Wenn dieser Janek seine Haut wirklich retten will, wird ihm schon was einfallen.«
Kaplan zog klappernd einen dicken Schlüsselbund hervor und knallte ihn auf den Tisch. »In einer halben Stunde muss ich Lilli bei ihrer verrückten Mutter abholen!«
Er hievte sich aus seinem Sessel, schleppte sich hinaus auf die Straße und begann, die vor dem Laden postierten Regale und Drahtkörbe mit den Sonderangeboten hereinzuholen.
»Warte, ich helfe dir«, rief Ben und lief ebenfalls nach draußen. Nachdem sämtliche Regale und Körbe im Laden standen und Kaplan abgeschlossen hatte, drückte er Ben zum Abschied ein Taschenbuch in die Hand und sagte: »Was für stille Stunden.«
Ben las den Titel: »Die Verwirrungen des Zöglings Törleß«. Den Namen Musil hatte er noch nie gehört.
»Ein Jugendbuch? Soll das ein Witz sein?«
»Kannst es ja wegwerfen, wenn du glaubst, du seist aus dem Alter raus«, erwiderte Kaplan, wandte sich mit einem vieldeutigen Grinsen ab und lief wortlos davon.
»Hey, und danke auch!«, rief Ben ihm hinterher. Ohne sich noch einmal umzudrehen, reckte Kaplan im Gehen die geballte rechte Faust in die Höhe und verschwand in die Nacht.
Ben ging zu seinem Wagen, den er in der Nähe geparkt hatte, und fuhr zu Iris’ Wohnung in die Nußallee. Kaplans Worte wollten ihm nicht aus dem Sinn, während er den Ford durch den nur noch spärlich fließenden Verkehr Richtung Hauptpost lenkte: »Du sitzt zwischen zwei Feuern. Frauen kommen und gehen, die Liebe kommt und geht.« Aha.
Vor ihrem Haus angelangt, schaltete er den Motor ab, stieg aber nicht aus, sondern blieb reglos im Dunkeln sitzen. Er ließ den Kopf gegen die Nackenstütze sinken und schloss die Augen.
Ben war müde und hatte Hunger. Müde von der Ungewissheit, müde vom Warten auf Iris, müde von der Kraft, die er irgendwie ohne sie aufbringen musste, um sich gegen das Abrutschen zu stemmen, das begonnen hatte. Telefonieren konnte er nicht mehr, und sein Geld ging ebenfalls langsam zur Neige. Er schaltete das Radio ein und sah immer wieder hinauf zu den dunklen Fenstern ihres Apartments. Bei Temperaturen von 49 Grad Celsius waren in Indien mehr als 1200 Menschen den Hitzetod gestorben, und in Berlin hatte eine achtundzwanzigjährigeTürkin ihre beiden Kinder mit Benzin übergossen und angezündet – als Grund für ihre Tat nannte sie Angst vor Abschiebung. In Nasirija, Basra und Bagdad führten die USA, wo 43,6 Millionen Menschen ohne Krankenversicherung leben, noch immer »Krieg gegen den Terror«.
Ben schaltete das Radio aus, drehte die Seitenscheibe einen Spalt weit herunter und spürte, wie die würzige Nachtluft in unsichtbaren Wellen hereinströmte und ihren kalten Hauch an seiner linken Wange und am Hals hinterließ. Es roch, als würde es demnächst anfangen zu regnen. Im selben Augenblick sprang im Treppenhaus das Licht an.
Ben schloss das Fenster, stieg aus dem Wagen und lief eilig hinüber. (Denn wenn er Glück hatte, würde jeden Moment jemand aus dem Haus treten und ihm damit die Chance bieten, hineinschlüpfen zu können.) Und er hatte Glück! Ein mit einem dunkelblauen Adidas-Trainingsanzug, über dem er eine helle offene Jack-Wolfskin-Outdoorjacke trug, dunklen schweren Stiefeln und einem Pepitahut bekleideter älterer Herr mit kantigen Zügen öffnete die Tür und glitt, von seinem ungeduldig hechelnden und an der Leine ruckenden schneeweißen Scotch-Terrier ins Freie gezogen, achtlos an ihm vorbei nach draußen. Ben drehte sich noch einmal nach den beiden um, dann nahm er die ersten Stufen.
Als er das zweite Stockwerk, in dem sich Iris’ Wohnung befand, erreicht hatte, ging das Licht aus. Ben horchte an der Tür und linste durch den Spion, konnte aber nichts erkennen. Dann ließ er sich auf der obersten Treppenstufe nieder, und langsam gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit. Aus den restlichen Wohnungen erklangen die üblichen Geräusche: ein dünnes gedämpftes Lachen, dumpfe Musikfetzen, Stimmen und die typischen, schwach vernehmbaren Dialoge eines laufenden Fernsehers.
Iris hatte ihm einmal mit den Worten »Für alle Fälle, man kann ja nie wissen« den Zweitschlüssel ihrer Wohnung angeboten, doch Ben hatte abgewinkt und erwidert: »Jetzt noch nicht, Iris! Später vielleicht.« (Und dabei war er sich unheimlich unabhängig vorgekommen.)
Er spürte, wie sich allmählich alles verlangsamte, wie seine Atmung sich
Weitere Kostenlose Bücher