Die Ängstlichen - Roman
einer gewissen Helene Ziegler im Tümpelgarten mit seinen Anrufen so lange auf die Nerven gegangen, bis er aufgab und den Versuch, Johanna zu erreichen, einstellte).
»Helmut, na endlich!«, rief Johanna, die froh war über jede noch so geringfügige Ablenkung. »Was sagen die Ärzte!«
»Alles in Ordnung, natürlich«, sagte Helmut selbstzufrieden und setzte im selben Moment zu einer seiner gefürchteten Räusperattacken an. Im entscheidenden Moment riss sie sich den Hörer vom Ohr und ließ Helmuts kratzendes Gebell am ausgestreckten Arm wirkungslos verhallen.
»Na, Gott sei Dank!«, rief sie anschließend in die wieder eingetretene Stille in ihrem Hörer, erleichtert und bereits mit ihren Gedanken woanders. »Ich bin am Vorbereiten, für morgen«, fügte sie hinzu und versuchte geschäftig zu klingen. »Ach, wie schön, dann wirst du also auch kommen! Um vier, aber das weißt du ja, na fein.«
Und ehe Helmut imstande war, etwas auf ihren Ausruf zu erwidern, hatte sie (wie es ihre Art war, wenn sie das Gefühl hatte, sich bereits viel zu lange mit etwas Nebensächlichem beschäftigt zu haben) auch schon aufgelegt und stand am Vorratsschrank, aus dem sie das Sonnenblumenöl (Livio), Essig (Kräuteressig der Marke Hengstenberg) sowie Salz und Pfeffer hervorholte.
B en stand seit einer ganzen Weile am Fenster, das Fernglas gesenkt. Am Horizont, wo die Linien der Dächer sich in der Fülle der sich über der Stadt ballenden Kumuluswolkenaufzulösen schienen, schob sich ein beweglicher Fleck ins Bild. Er hob das Hunter wieder vor die Augen, und nun erwies sich der silbergraue Punkt als gewöhnliche Swissair-Passagiermaschine, die sich langsam durch den Bildausschnitt bewegte. Enttäuscht nahm er den Feldstecher herunter. (Ja, was hatte er denn erwartet? Eine fliegende Untertasse vielleicht? Oder eine lautlos am Firmament dahinsegelnde lilafarbene Kuh?)
Während er versuchte, die Schärfe nachzustellen, um besser sehen zu können, verschwand die Maschine im Dunst, und im Bildausschnitt zeigten sich nur wieder die Wolken in ihrer majestätischen Formenvielfalt und Größe.
Er schwenkte nach unten und blieb bei den städtischen Arbeitern in ihrer grünen Arbeitskleidung hängen, Männern in schweren dunklen Arbeitsschuhen, die sich mit Rechen und Besen an dem welken Laub zu schaffen machten, das auf den Gehwegen und Grünflächen lag. Einer von ihnen, ein Schwarzer, stocherte mit einer Art verlängerter Greifzange nach Papierfetzen und kleineren Abfällen, die auf dem Rasen, im Gebüsch und auf den Wegen lagen und die er, einen nach dem anderen, in den grauen Plastikbeutel tat, den er in der anderen Hand hielt. Er pickte danach wie die Tauben nach Brosamen. Und plötzlich spürte Ben, dass er den Mann da unten um seine zwar simple, dabei aber durchaus sinnvolle Aufgabe beneidete, die da hieß, für eine Zeitlang Sauberkeit in eine verschmutzte Welt zurückzubringen, statt, wie er selbst, schlechtbezahlte Artikel zu schreiben, die keine Menschenseele interessierten.
Vor ihm lagen noch etwas mehr als fünf Stunden bis zu Iris’ Rückkehr aus Hamburg. (Eine kleine Ewigkeit für jemanden, der nicht im Gleichmaß eines festgefügten Tagesablaufs funktionierte, sondern ziellos dahintrieb.) Sie würden einer dem anderen am Gleis gegenüberstehen (er mit Blumen, sie mit ihrem Koffer und ihrer Handtasche unter dem Arm), einanderansehen und darauf warten, dass der andere den ersten Schritt tat. Bei dieser Vorstellung musste Ben sich eingestehen, dass seine gesammelten Erfahrungen (ja, auch die mit Iris) nicht das Geringste mit Wissen zu tun hatten. Iris konnte so oder so reagieren. Seine sogenannten Erfahrungen waren Erfahrungen mit der Ungewissheit, mit ihrer Grenzenlosigkeit, und genau genommen würde er nie wissen, was er tatsächlich wusste (über Iris) und was er sich bloß einbildete über sie.
Auf einmal hatte er wieder jenes Bild von ihr vor Augen, an dem er sich nicht sattsehen konnte, wenn es ihm in den Sinn kam: Iris steht am Waschbecken im Badezimmer, streckt das Gesicht ihrem Spiegelbild entgegen und schminkt sich die Lippen. In seiner Phantasie trägt sie dunkle Schuhe mit hohen Absätzen, und die Eleganz ihres nachtblauen Kostüms hat etwas Dezentes. Doch der größte Teil ihrer Schönheit liegt für ihn darin, dass er nicht imstande ist, in genau jenem magischen Moment ihre Gedanken zu erraten.
In seiner wiederkehrenden Vorstellung spitzt sie die Lippen, die anfangs beinahe die gleiche Farbe haben wie
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