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Die Ängstlichen - Roman

Die Ängstlichen - Roman

Titel: Die Ängstlichen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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Kaffeeautomaten zu schaffen.
    Daneben leuchtete in einer Vase ein riesiger Strauß Rosen, der unweigerlich sämtliche Blicke auf sich zog.
    Für sein Alter (Ulrike hätte den Fremden spontan auf Mitte siebzig geschätzt) erstaunlich gewandt, kletterte er auf einen der freien Barhocker, und Ulrike nahm wortlos neben ihm Platz. In dem über der Bar angebrachten Spiegel verfolgte sie, wenn auch etwas verzerrt, den Betrieb und das ruhelose Kommen und Gehen der Besucher hinter ihrem Rücken. Esroch nach Kaffeebohnen, verschmortem Käse und Zigarettenrauch.
    Die massigen Hände des Alten, die vor ihm auf dem Tresen lagen und aus denen die Adern da und dort hervortraten wie bläuliche Kabel, waren sonnengebräunt und faltig und übersät von winzigen erdbraunen Flecken. Ulrike musste bei deren Anblick spontan an die Jahresringe denken, die sie manchmal als Kind gezählt hatte, wenn sie in den Wäldern Wilhelmsbads vor einem Baumstumpf stehen geblieben war, ihre kleinen Hände interessiert auf die mehr oder weniger plane, süßlichherb duftende Schnittfläche gelegt, die zackigen Ringe langsam mit dem Finger nachgezeichnet und von innen nach außen durchgezählt hatte.
    Auf Ulrike wirkten diese Hände seltsam vertraueneinflößend. Hände eines Bauern, dachte sie im Stillen, oder eines ehemaligen Bauarbeiters.
    »Was darf ’s sein?«, sagte die Bedienung zu dem Alten in der zwar freundlichen, aber erkennbar routinierten Tonlage eines Menschen, der diesen Satz wohl schon Tausende Male in seinem Leben gesagt und sicher auch im Schlaf bereits das eine oder andere Mal ausgesprochen hatte. Auf dem Namensschild, das an ihrer Schürze auf Höhe der sich darunter abzeichnenden Brüste festgesteckt war, stand in gut lesbaren Druckbuchstaben der Name »Rita«.
    »Kaffee?«, fragte der Mann, worauf Ulrike, die sich inzwischen ein wenig beruhigt hatte, zustimmend nickte. Noch immer machte er keinerlei Anstalten, sich ihr vorzustellen.
    »In amerikanischen Filmen heißen solche Frauen, ich meine solche, die an Orten wie diesen arbeiten, meist Doreen, Helen oder Myriel«, sagte Ulrike nun ihrerseits mit Blick auf die Bedienung, um irgendetwas zu sagen und damit zu verhindern, dass sie gegen ihren Willen über sich selbst sprechen musste.Darüber, weshalb sie geweint hatte. Denn auf einmal war es ihr peinlich, dass sie allein aus diesem Grund die Aufmerksamkeit des Mannes erregt hatte und nun neben ihm saß.
    »So«, sagte der zunächst, ohne sie dabei anzusehen, als rede er mit sich selbst oder einem imaginären Gegenüber, fügte aber schließlich, wobei er sie nun freundlich aus seinen blauen, nicht sehr großen Augen fixierte, hinzu: »Die Dinge verändern sich schneller, als wir glauben. In einem Jahr werden Sie sich nicht einmal mehr an diesen Tag erinnern können.«
    Ulrike horchte dem Klang seiner Stimme und der Färbung und Bedeutung der Worte nach, die schwangen wie die von jemandem, der dem anderen das Wissen um etwas Wahres, Tieferliegendes voraus hat, ohne es genauer erklären zu wollen. Gleichzeitig verfolgte sie die Handgriffe der Bedienung an dem Kaffeeautomaten: ihr fachmännisches Hantieren mit den silberfarbenen Siebträgern, das Ausklopfen des heiß dampfenden Kaffeesatzes in die aufgezogene Holzschublade und das anschließende Dosieren des frischen erdigen Pulvers, ehe sie die beiden Siebträger wieder in dem Automaten fixierte, zwei Tassen unter die Druckkammern stellte und per Knopfdruck den Brühvorgang startete. Doch die Worte des anderen verfolgten sie wie das Echo eines Vogelschreis in der Abgeschlossenheit eines Kirchenschiffs. Und so sagte sie widerwillig und hörbar zweiflerisch: »So, glauben Sie? Ich weiß nicht.«
    Plötzlich war ihr, als sehe sie nun zum ersten Mal klar, als sei alles, was jenseits seiner Worte läge, unversehens in dichtem Nebel verschwunden: die Sorge um Rainer, die letzten Stunden, ihr gesamtes bisheriges Leben.
    »Zweimal Kaffee, bitte sehr!«, mischten sich die Worte der Bedienung unter ihren kleinen, stockend geführten Dialog.
    Ulrike langte zögerlich nach dem Amarettoplätzchen, das auf dem Unterteller lag, und biss hinein. Dann nahm sie dasZuckersäckchen, riss es auf und schüttete dessen Inhalt auf einmal in ihren Kaffee.
    »Ich habe einfach die Orientierung verloren«, entfuhr es ihr zu ihrer eigenen Überraschung.
    »Das passiert uns allen«, sagte der Alte ruhig und blickte sie intensiv an. »Darum bin ich hier.«
    Ulrike sah ihn irritiert an. »Weil ich die Orientierung

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