Die Ängstlichen - Roman
sechsunddreißig Stunden würden alle sie fragend ansehen mit einem Ausdruck im Gesicht, der nichts anderes bedeutete, als: Na, dann schieß mal los mit deinem Geheimnis! Obendrein plagte sie die Sorge um Helmut. In der Nacht war sie ein paarmal hochgeschreckt und hatte wie ein Kind, das sich im Wald verlaufen hat, seinen Namen in die Schwärze gerufen. Gleich morgen früh will ich mich erkundigen, wie es ihm geht, hatte sie sich geschworen, bevor sie wieder einschlief. Doch als sie dann Stunden später erwachte, war dieser Vorsatz verblasst, und sie konnte an nichts anderes denken als an all die Dinge,die sie noch zu erledigen hatte. Und an Janek natürlich, dessen rätselhafter, jäher Tod sie einfach nicht losließ.
Es war inzwischen mehr als fünf Jahre her, seit sie die Familie das letzte Mal um sich versammelt hatte. Sie hatten ihren 75. Geburtstag in der Ankergasse gefeiert, damals. Janek hatte auf seiner Mandoline für sie gespielt und mit geschlossenen Augen polnische Liebeslieder dazu gesungen. Das klagende, silberne Vibrato seiner Kopfstimme hatte sie damals zu Tränen gerührt. Und nachdem sie ihre Tränen getrocknet und wieder halbwegs gefasst im Schein der flackernden Tischkerzen in die Runde gelächelt hatte, hatte Helmut mit einem Knall (und einer unter dem Gejohle der Anwesenden über die Kaffeetafel hinausschießenden Fontäne) die Magnumflasche Roederer Kristall geöffnet, die er ihr bei seinem Eintreffen mit dem gönnerhaften Lächeln eines Jägers überreicht hatte, der mal wieder den dicksten Vogel von allen abgeschossen hatte.
Mit klirrenden Kelchen hatten sie auf ihr Wohl angestoßen und sie hochleben lassen, so dass Johanna noch lange von diesem in ihren Augen unvergesslichen, äußerst harmonischen Nachmittag gezehrt hatte. (Immer wieder hatte sie Blicke in Richtung der Caspers geschickt, ihnen zugeprostet und befriedigt ihre neidischen Mienen zur Kenntnis genommen.)
»Harmonisch«, das Wort, das seit geraumer Zeit mit Abstand am häufigsten in Johannas Gedanken vorkam (unmittelbar gefolgt von den Vokabeln »Sorge«, »Blutdruck« und »Bakterien«) und am treffendsten umschrieb, wonach ihr – auch und gerade im Hinblick auf das Familientreffen – der Sinn stand: nach ein paar Stunden einträchtigen Beisammenseins. Man würde zusammensitzen, in Erinnerungen schwelgen und zum hundertsten Mal die altbekannten Anekdoten zum Besten geben (Konrads Streiche, Ulrikes Macken, Helmuts strahlende Erfolge beim Bridge- und Golfspiel), gemeinsam die vonihr zubereiteten Speisen essen und trinken und die neu entstandene Sachlage auf sich wirken lassen.
Natürlich war Johanna klug genug, nicht mit falschen Erwartungen an die Sache heranzugehen. Die von ihr einberufene Zusammenkunft war allein dem Umstand geschuldet, dass sie die mit ihrer Übersiedlung ins Herz-Jesu-Stift verbundene Räumung der Ankergasse zu verkünden hatte. (Mit Janeks Verschwinden war der letzte wirkliche Hinderungsgrund weggefallen. Nur er, das spürte sie jetzt, hätte sie von einem solchen Schritt abhalten können, nur er.)
»Ja, mein Entschluss ist unwiderruflich!«, würde sie sagen und entschlossen in die Runde blicken. (Außerdem war seit ihrer Unterschrift unter den Vertrag sowieso nicht mehr daran zu rütteln, die Sache war besiegelt.) Was anschließend käme, würde man sehen. Zunächst einmal galt es, Abschied von der Ankergasse zu nehmen. Sollte das Ganze sich am Ende zu einer Art harmonischer Abschlussfeier entwickeln – und einem stillen gemeinsamen Andenken an Janek –, umso besser! (Wirklich wohl aber war ihr bei der Sache nicht mehr. Janek fehlte ihr, und auch in neuen Räumen würde sich das nicht ändern. Er fehlte ihr, wenn sie morgens in die Küche kam, und er fehlte ihr, wenn sie abends vor dem Fernseher saß und ihr Blick auf den leeren Sessel fiel.)
Gedankenverloren gab sie die Möhren- und Kohlrabiraspel in eine Schüssel, warf die Schalen in den Mülleimer unter der Spüle und war im Begriff, die Zutaten zusammenzuholen, die für ein entsprechendes Dressing nötig waren, als in der Diele das Telefon läutete.
Nein, es war nicht der an Dyskalkulie laborierende Pfleger Michael Pasulke aus Heppenheim, der seit geraumer Zeit erfolglos versuchte, Johanna telefonisch mitzuteilen, dass ihr Sohn Konrad ausgebrochen war, sondern Helmut, der wiederin seinem Ohrensessel saß und an der Fernbedienung herumspielte. (Pasulke war infolge zweier Zahlendreher innerhalb der elfstelligen Rufnummer auf seinem Zettel
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