Die Ängstlichen - Roman
fünfgeschossigen, von spärlichen hellen Schächten, Buschwerk oder Einfahrten unterbrochenen Blocks, deren vorstädtischer Tristesse sie durch ein Steigern der Geschwindigkeit unbewusst zu entfliehen suchte.
Auf einem Balkon sah sie ein spektralfarbenes Windrad, das sich träge in der Sonne bewegte. Ein andermal glaubte sie, trotz der rundum geschlossenen Fenster sekundenlang den Geruch von Lavendel zu riechen. Es war, als liege ihre Bestimmung in diesen Minuten allein im Fahren und als führe sie durch einen bösen Traum in eine andere, bessere Welt.
Sie durchschnitt den sich als Senke um die Stadt erstreckenden Grüngürtel, gegen den sich nach Süden hin die Wasserkuppe mit ihren sanft geschwungenen, braungrün leuchtenden Ausläufern erhob. Bis sie die Auffahrt auf die A 7 Richtung Kassel nahm und ihren Wagen in den nicht dichten Verkehr einfädelte.
Ulrike musste an die Baccara-Rosen im Waschbecken des Badezimmers denken und bekam Angst, sie könne den Golf gegen die Leitplanke oder sonst wohin manövrieren, so unsicher fühlte sie sich auf einmal. Doch dann sah sie das Hinweisschild der Raststätte Ebersburg herannahen, einen langsam größer werdenden blauen Fleck im grünbraunen, die Fahrbahn säumenden Band. Nach fünf ihr endlos lang erscheinenden Kilometern, fuhr sie von der Autobahn ab, lenkte den Wagen in eine Haltebucht und stellte mit letzter Kraft den Motor ab. Und dann brach es aus ihr heraus: eine Welle ausSchmerz und Sehnsucht, die so groß und so stark war, dass sie in Form kleiner herzzerreißender Japser nach Luft zu schnappen begann, um nicht augenblicklich darunter zu ersticken. Sie atmete ein und aus, ein und aus und sank schließlich schluchzend über dem Steuer zusammen. Im Rücken vernahm sie undeutlich das an- und abschwellende Geräusch der vorbeifahrenden LKWs, ein Donnern und Branden, wie wenn mächtige meterhohe Wellen eines aufgepeitschten Meeres immerzu gegen Kaimauern schlagen.
Plötzlich aber pochte es an der Scheibe. Erschrocken fuhr sie hoch, wobei sie hastig ein Tuch aus ihrer auf dem Beifahrersitz liegenden Handtasche zog, um sich die Tränen aus den stark geröteten Augen zu wischen. Als sie sah, dass jemand auf ihrer Seite neben dem Wagen stand, ließ sie durch einen kräftigen Druck auf den Fensterheber die Scheibe widerwillig einen Spalt weit herunter.
Ulrike blickte in das runzlige, spitz zulaufende und trotz der unzähligen braunen Flecken durchaus sympathische Gesicht eines alten Mannes. Er hatte schlohweißes Haar, wachsame blaue Augen und schmale blassrosa Lippen. In den dunklen Löchern seiner Nase kräuselten sich winzige graue Haare.
»Kann ich Ihnen helfen?«, sagte der Mann mit schwerer Stimme und kam ihr dabei mit seinem Gesicht nun noch ein Stückchen näher.
»Es geht gleich wieder«, sagte Ulrike schniefend, wobei sie ein schiefes Lächeln aufsetzte. Doch das stimmte nicht. Denn bereits im nächsten Moment überfiel die Welle aus Sehnsucht und Angst sie von neuem, und sie begann wieder hemmungslos zu schluchzen. In der Hand hielt sie das zusammengedrückte Tuch.
»Kommen Sie!«, sagte der alte Mann und öffnete die Wagentür. Zu ihrer eigenen Verwunderung schloss Ulrike widerspruchslosdas Fenster, stieg wimmernd und mit ihrer Handtasche in der Hand aus dem Wagen aus, drückte fahrig den Lock-Button an ihrem Schlüsselbund und presste sich die Papierkugel gegen ihre zitternden Lippen.
»Ja, kommen Sie!«, wiederholte der Alte und hielt ihr in der Manier eines Mannes, der eine Frau zum Tanz auffordert, den linken Arm hin. Mit dem anderen wies er in Richtung des Raststättengebäudes. »Eine Tasse Kaffee wird Ihnen guttun.«
Beim Anblick seiner Haare musste sie an Janek denken, dessen Schopf das gleiche, an Zuckerwatte erinnernde Weiß besaß.
An der Seite des Unbekannten, von dem eine große irritierende Ruhe ausging, betrat Ulrike die Raststätte. Und mit jeder Sekunde, die sie länger neben ihm herging, hatte sie ein bisschen mehr das Gefühl, in seiner Gegenwart die Kraft und jene Ruhe wiederzufinden, die nötig waren, um den Dämonen, die in ihr wüteten, erfolgreich zu trotzen.
Zielstrebig lief der mit einer fuchsfarbenen Hose, hellbraunen Halbschuhen und einem dazu passenden Tweedsakko bekleidete Mann zu der weit geschwungenen Theke im mittleren Teil der Raststätte, hinter der eine mit einer hellroten Schürze bekleidete Frau stand. In ihrem Haar steckte ein ebenfalls hellrotes Häubchen. Mit dem Rücken zu ihnen machte sie sich an dem
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