Die Ängstlichen - Roman
lindgrünen Schnapprollo, durch dessen schmalen Spalt die feuchtkühle Vormittagsluft hereinströmte und unangenehm ihre Fesseln umspielte. Von Rainer selbst keine Spur!
Ulrike spürte, wie in ihrem Gesicht alles ins Rutschen kam. Der starke, unerschütterliche Gott namens Familie, den sie geliebt, dem sie klaglos gedient hatte und der ihr so lange eine Stütze gewesen war, hatte sich offenbar endgültig von ihr abgewendet: Clara hatte ihre langatmigen Erklärungsversuche am Vorabend, weshalb sie ihr so spät zum Geburtstag gratulierte, mit einem beleidigten »Ach, vergiss es!« quittiert undwenig später einfach aufgelegt. Carl und Robert zeigten inzwischen nicht einmal mehr ein Mindestmaß an Familiensinn (ihre Anrufe in den letzten Monaten waren an einer Hand abzuzählen, und ihre spontanen Kurzbesuche früherer Zeiten gehörten offenbar endgültig der Vergangenheit an. Und dass Rainer vergessen hatte, ihr von Carls Anruf zu erzählen, spielte nun auch keine Rolle mehr). Und nun auch noch ein entflohener Ehemann! Ulrikes Lippen begannen lautlos zu zittern.
Sie lief ins Gästezimmer zurück, zog sich hastig an und machte anschließend einen Abstecher ins Bad, wo sie sich rasch die Wimpern tuschte, eine Spur Make-up auftrug und, nachdem sie sich flüchtig mit der Bürste durchs Haar gefahren war, eine Sedacalman einwarf.
Natürlich konnte sie mit ihrer pragmatischen Art, die Dinge zu sehen und zu beurteilen, fortfahren und abwarten, wie sich alles entwickeln würde. Sie konnte sich eine Tasse Kaffee machen, einen Blick auf ihre für den Tag verfasste Erledigungsliste werfen und damit beginnen, sie Punkt für Punkt abzuarbeiten, oder sich anderen Aufgaben und Anforderungen zuwenden. Ihr kaputtes Fahrrad zum Beispiel stand seit Wochen mit platten Schläuchen in der Garage und musste zur Reparatur gebracht werden. Und auf ihrem Sekretär stapelte sich Korrespondenz, die beantwortet werden musste. Von dem pechschwarzen Leberfleck an ihrem linken Unterarm, den sie dringend untersuchen lassen sollte, ganz zu schweigen. Doch statt Halt in der Erledigung häuslicher Dinge zu suchen (dem Verschnüren des im Keller sich stapelnden Altpapiers etwa oder dem Ausräumen des Trockners, in dem sich noch immer ihre Tennissachen befanden), eilte Ulrike hinunter in die Diele, warf sich mit knurrendem Magen Schal und Mantel über und stieg in ihre an den Rändern schlammverkrusteten Prada-Halbschuhe. Alles in ihr strebte danach, den Ort der Schmach hinter sich zu lassen.(Doch wieso, um Himmels willen, fiel ihr in solchen Momenten immer wieder nur Britta ein, zu der sie hinlaufen und der sie alles brühwarm erzählen konnte? War sie gesellschaftlich denn inzwischen derartig auf den Hund gekommen, dass sie bei niemand anderem spontan Trost und Zuflucht finden konnte? Wo waren denn all die guten Freundinnen und Weggefährtinnen früherer Zeiten, derer sie sich einst rühmen konnte?)
Vor der Tür aber, die sie gerade verschlossen hatte, verspürte sie unglücklicherweise einen jähen, unaufschiebbaren Harndrang, so dass sie noch einmal aufschließen musste, sich umständlich ihres Mantels entledigte (den sie schließlich einfach auf den Boden warf) und in die Gästetoilette eilte. Doch als sie den Deckel des Klos hochklappte, präsentierte sich ihr zu ihrem Entsetzen ein ockerfarbener und an den Rändern bereits wässrig gewordener Kotklecks: Rainer, das Schwein, hatte vergessen zu spülen! Oder stellten seine ihr womöglich ganz bewusst präsentierten Fäkalien eine Art Kommentar zu dem dar, was augenblicklich zwischen ihnen ablief? Dabei war sie überzeugt gewesen, Rainer wieder im Griff zu haben …)
Angewidert drückte Ulrike ein paarmal den Spülknopf (sie pochte mit der Faust dagegen wie gegen einen Feuermelder und hätte manches dafür gegeben, dass irgendwer ihren Notruf erhörte und ihr zu Hilfe kam) und warf den Klodeckel mit verächtlicher Miene zu. Dann machte sie auf dem Absatz kehrt Richtung Diele und kämpfte sich mit stechender Blase und Tränen in den Augen hinauf in den ersten Stock.
Ulrike spürte, dass sie in diesen Minuten (trotz des eingenommenen Sedacalman-Dragees, dessen Wirkung noch immer auf sich warten ließ) als Halt etwas Größeres brauchte als Brittas gutgemeinte und noch dazu nicht selten in grammatikalisch unkorrektem Deutsch vorgetragene Solidaritätsbekundungen. Und so appellierte sie, während sie im Badezimmermit zitternden Händen ihren Schlüpfer herunterzog und auf die Klobrille niedersank,
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