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Die Ängstlichen - Roman

Die Ängstlichen - Roman

Titel: Die Ängstlichen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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ihre Kräfte bald überstieg. Gerade eben hatte sie eine Lungenentzündung auskuriert, und die Tage auf der Hohen Tanne hatten ganz im Zeichen geduldigen Wartens auf bessere Zeiten, auf das Ende des Krieges und Pauls Heimkehr gestanden, als Janek auf der Bildfläche erschien, ein hagerer, nicht mehr ganz junger Mann mit auffallend großen Ohren und schwer zu bändigendem, nach hinten gekämmtem eisgrauem Haar.
    »Du musst ihn kennenlernen!«, hatte Annie Picard, deren Garten an den ihren grenzte, damals zu ihr gesagt und dabei bedeutungsvoll die dunklen Augen gerollt. »Ich wette, dass er dir gefällt, mein Pole!«
    »Was sind denn das für Anspielungen, Annie?«, hatte Johanna ihr darauf entgegnet.
    »Du sollst ihn ja nicht heiraten«, erwiderte Annie und strich mit der Hand die Bügelfalten an ihrem Rock nach. Johanna hatte eine Zeitlang geschwiegen, dann aber mit leicht zusammengekniffenen Lidern gesagt: »Ein Pole?«
    »Ja, ein Pole«, hatte Annie mit einem wollüstigen Gurren in der Stimme geantwortet, »und was für einer! Ein richtiger Schlawiner, sag ich dir.«
    Johanna kam es, während sie die Fotos betrachtete, vor, als sei die Zeit stehen geblieben. Oder als habe sie sich für die Dauer, da sie das Bild betrachtete, das Janek in seiner Wehrmachtsuniform zeigte, zurückgedreht. Alles schien ihr plötzlich so gegenwärtig: das Gespräch mit Annie Picard, ihre damaligen Skrupel und auch ihre nur schwer zu zügelndeNeugier auf das, was aus Annies Worten und Gesten zu ihr gesprochen hatte.
    Was anschließend folgte, erschien ihr im Rückblick so unwirklich wie ein Traum, den man einmal wie mit angehaltenem Atem durchlebt hatte und dem man fortan nachhing wie einem süßen Duft: dem Duft eines geheimen Versprechens, dem Aroma des Abenteuers! Und Johanna, die gerade begonnen hatte, den Kampf um die Liebe für verloren zu halten, hatte Gefallen daran gefunden, sich plötzlich aufs Neue in Person des Polen Janek Knapik von einem Mann bewundert und umgarnt zu sehen. Sie, die, wie sie damals glaubte, aufgehört hatte, sich länger als ein Wesen wahrzunehmen, das das Interesse des anderen Geschlechts auf sich zog. Doch dann hatte er, wie aus einer Seitentür des Lebens hervorgekommen, plötzlich vor ihr gestanden: mit schwarzen Schuhen, dunklem Anzug und hellem offenem Hemd bekleidet und zu allem entschlossen.
    Janek hatte sie kurz darauf zu Annie Picards legendärem, alljährlich stattfindendem Gartenfest abgeholt und durch den warmen, unter bunten Lichterketten und Lampions vergehenden Abend geleitet. Nur kurz war er von ihrer Seite gewichen, um die leeren Gläser durch volle zu ersetzen. Zunächst hatte Johanna sich nichts dabei gedacht, sich von einem anderen Mann umgarnen zu lassen. Sie hatte sich in dem unverhohlenen Interesse des Polen geaalt wie eine Katze auf einem warmen Stein in der Sonne. Bis sie sich eines Tages dabei ertappte, sich ein Leben ohne ihn nicht mehr vorstellen zu können – und erschrocken war. Seither waren fast sechszig Jahre vergangen, und Johanna rang nach Luft. Eilig ließ sie die Fotos zurück in die Schachtel gleiten, so bedrängend und aufwühlend waren all diese Erinnerungen plötzlich für sie.
    Auf ihre Augen legte sich ein feuchter Film, und sie nahmzitternd die Brille ab. Die Tränen schwemmten über ihre von einer fleckigen Röte überzogenen pelzigen Wangen und hinterließen feuchte Spuren, bis hinunter zu der leicht zitternden Oberlippe. Gleichzeitig hatte sie das Gefühl, als hätte sich alles um sie her auf geheimnisvolle Weise verlangsamt. Als habe das Schicksal kurz innegehalten.
     
    D er Frühherbst fegte als kühler, ungemütlicher Hauch über die baumbestandenen Gleise des Hanauer Hauptbahnhofs, und der Wind stand in diesen Minuten so, dass man an Gleis 6 den ICE »Heinrich Heine«, aus Berlin kommend, mit Kurs auf Dortmund, vorbeijagen hörte.
    Brackiger Geruch kam mit dem Windhauch aus dem nahen Hafenbecken herüber und mischte sich mit den schweren Düften der letzten standhaften Sommerazaleen, die in den Steinkübeln leuchteten. Vereinzelt und wie auf Wellen trieben Möwen heran, und Ben sah in Gedanken den in einem unwirklichem Kupferton daliegenden Main und den Hafendamm mit seinen weithin erkennbaren Hub- und Ladekränen, den matt glänzenden Containern und gelöschten Tankern vor sich. Der Himmel, eben noch klar, färbte sich von Süden her tintenblau und wurde langsam aschgrau.
    Kurz ertönte aus den unterirdischen Gängen das Hallen von Schritten und

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