Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Ängstlichen - Roman

Die Ängstlichen - Roman

Titel: Die Ängstlichen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
Vom Netzwerk:
verloren habe?«
    »Nennen Sie es, wie Sie wollen«, antwortete ihr Nachbar gelassen und setzte die Tasse, die er eben noch in der Hand gehalten hatte, lautlos auf dem Unterteller ab. »Es ist wie eine Wolke, die uns plötzlich einhüllt und uns vorübergehend die Sicht nimmt. Doch das geht vorbei. Ich weiß es, glauben Sie mir!«
    Kaum waren die Worte des anderen verhallt, spürte Ulrike, wie auf rätselhafte Weise die Verkrampfung ihres Körpers nachließ. Einen Moment lang meinte sie wie beim Blick durch ein Mikroskop ihre Zukunft vor sich sehen zu können. Jedes einzelne Detail. Die Wolke, von der der Mann gesprochen hatte, war tatsächlich im Begriff, sich aufzulösen.
    »Sie brauchen keine Angst mehr zu haben«, sagte er und faltete dabei wie zum Gebet die Hände.
    »Ja, ist gut«, erwiderte sie so selbstverständlich wie eine Gläubige, die einem Priester nachspricht. Oder als rede eine andere, Geläuterte aus ihr. Dann spürte sie eine Zeitlang den eigenen Worten nach wie einem Geruch in der Luft, der uns an etwas weit Zurückliegendes erinnert, das wir ganz vergessen haben und das plötzlich sekundenlang wie zum Greifen vor uns zu stehen scheint. Und auf einmal spürte Ulrike in einer rätselhaften Mischung aus Beklommenheit und Glück, dass sie wie durch ein Wunder zu sich zurückgefunden hatte. Sie begriff, dass sich etwas in ihrem Leben entschieden hatte, und lächelte. Gleichzeitig war ihr, als sei sie aus einer Art Verzauberungherausgefallen. Denn nun bemerkte sie, dass der Platz, auf dem der Alte gesessen hatte, leer war.
    Er wird, ohne dass ich es bemerkt habe, zur Toilette gegangen sein und sicher gleich zurückkommen, sagte sie sich, während ihr der Luftzug, der von der sich öffnenden Eingangstür hereindrang, kühl um die Beine spielte. Doch auch eine Viertelstunde später blieb der Platz neben ihr, den sie inzwischen mehrmals auf Anfrage für besetzt erklärt hatte, leer.
    »Zahlen, bitte!«, rief sie irgendwann mit gezücktem Portemonnaie unschlüssig in Richtung der Bedienung, wobei ihr nun auffiel, welch bleicher Ausdruck auf deren nachlässig geschminkten Zügen lag.
    »Das hat Ihr Begleiter bereits erledigt«, erwiderte die Frau und lächelte unwillkürlich.
    »Ach ja?«, sagte Ulrike überrascht, steckte ihre Geldbörse wieder ein, blieb aber noch eine Weile auf ihrem Platz sitzen. Und weil sie nicht wusste, was sie sonst noch hätte tun können, sagte sie spontan mit Blick auf die Rosen in der Vase neben der Kaffeemaschine: »Das sind Baccara-Rosen, nicht wahr?«
    »Ganz genau!«, antwortete die Bedienung und umfasste mit der rechten Hand demonstrativ einen der blutroten Blütenkelche. »Hat mir mein Freund geschenkt, der ist Ermittler bei der Kripo.«
    »Die sind wirklich wunderschön«, sagte Ulrike und dachte bekümmert an ihren eigenen Strauß, der zu Hause im Waschbecken lag.
    Irgendwann lief sie hinaus auf den Parkplatz. Doch auch dort keine Spur von dem Fremden im Tweedsakko. Unsicher wandte sie sich mal in diese, mal in jene Richtung. Und am Ende blinzelte sie kurz scheu hinauf zum Himmel.
    »So ein Unsinn«, sagte sie schließlich halblaut und stieg kopfschüttelnd in ihren Wagen.
     
    A bschied aus der Ankergasse? Was bedeutete das eigentlich wirklich? Außer dass sie das Glück ihres letzten Lebensabschnitts noch einmal woanders zu finden hoffte? Glück? Sicher ein zu großes Wort für das, was sie von ihrem Umzug in das Herz-Jesu-Stift erwarten durfte. Zufriedenheit umschrieb zweifellos treffender, worauf sie im günstigsten Fall hoffen durfte. Von Seelenfrieden gar nicht zu träumen …
    Zufriedenheit? Ein Zustand, der in der seit Jahren vollführten rituellen Wiederholung des Immergleichen einer gewissen Abstumpfung Platz gemacht hatte. Jeden Morgen das Gleiche: die bis zum Gehtnichtmehr vollführten, den Tag einleitenden Handgriffe im Bad und an der Kaffeemaschine, das Decken des Tisches, das flüchtige Lauschen auf die Radiostimme des Frauenfunks. Jeden Morgen die gleiche Sorte Kaffee, die gleiche Marmelade, die gleiche Schwarzbrotsorte, der gleiche bittere Geschmack von Unlust und Vergeblichkeit auf der Zunge.
    Altsein hieß, der eigenen, früher oder später ins Stottern geratenden Motorik zu gehorchen, hieß, den immergleichen Bahnen zu folgen. Bis man eines Tages zusammenklappte, umfiel und starb und vergessen wurde. Aus und vorbei!
    Wollte sie sich das alles wirklich noch länger zumuten? Kam da der Umstand des bevorstehenden Umzuges in ein neues Umfeld nicht geradezu

Weitere Kostenlose Bücher