Die Ängstlichen - Roman
verzerrte Bellen eines Hundes. Oben auf dem Gleis Nummer 2 aber, wo der Zug aus Hamburg in Kürze eintreffen würde, herrschte eine wohltuende Stille. Außer ihm verlor sich gerade mal eine Handvoll Personen am Gleis.
Mit dem Blumenstrauß in der Hand begann Ben leicht zu schwitzen und ermahnte sich, den in dieser Sache eingeschlagenenKurs zu halten und nicht vor der Macht von Iris’ plötzlicher Anwesenheit zurückzuweichen.
In was für eine dumme Sache war er da nur wieder hineingeraten? Natürlich wusste Ben, dass es längst an der Zeit war, sein Leben in Ordnung zu bringen und sich auf die richtige Seite zu schlagen. Und im Grunde war es ganz einfach: Man ortete das Problem, zerbrach sich den Kopf darüber, fällte eine Entscheidung, traf Vorbereitungen zu deren Umsetzung und schaffte das Problem aus der Welt. Das klang ganz einfach. Und so überzeugend. (Bloß tat er es nicht. Denn wie oft hatte er sich das schon gesagt und anschließend doch bloß so weitergemacht wie zuvor! Und auf diese Weise verstrich sein Leben, verstrich Monat um Monat, Jahr um Jahr.)
Er konnte sich damit trösten, dass er noch jung war (so jung nun auch wieder nicht!) und dass ihm noch genug Zeit bliebe, aus seinem Leben etwas zu machen.
Kaplan hatte recht. Er würde Iris bitten, ihm zu verzeihen. Sie würden, das war sein fester Vorsatz, sich endlich wieder einander widmen. Sie würden das Ganze hinter sich lassen wie etwas, von dem man später erleichtert sagte: »Ach, das war doch nur ein böser Traum! Aber das Leben ist ja Gott sei Dank ganz anders!« Doch was würde aus Janek werden?
In selben Moment tauchte der Zug am Horizont auf, ein dunkler, stetig wachsender Punkt, der die Konturen einer Lok annahm und sich über die blitzenden Schienenstränge heranschob. Durch Bens Nasenlöcher pulsierte ein metallischer Geruch. Energisch umfasste er die verschnürten, aus dem durchgeweichten Papier hervorkommenden Blumenstängel, deren Dornen sich sanft in seine Handfläche bohrten.
Mit einem durchdringenden Kreischen der Bremsen kam der Zug zum Stehen, und sogleich füllte beißender Asbestgestank die Luft. Türen wurden aufgestoßen, und über das Gleisdröhnte eine Ansagerstimme, die rief: »Hanau, Hanau Hauptbahnhof!« Die Aussteigenden sprangen auf den Bahnsteig und strebten einmütig dem Ausgang zu. Unter der gewellten, sichtbar verwitterten Gleisüberdachung hallten ihre Schritte und ihr Gemurmel wider.
Ben ging auf die Zehenspitzen und reckte neugierig den Hals. Und da sah er sie: Iris trug ihren lindgrünen Trenchcoat und kam langsam näher, löste sich aber plötzlich aus dem kleinen Pulk und stellte ihre Reisetasche vor sich auf den Boden.
Irritiert beobachtete Ben ihr Tun. Sie zog ein Taschentuch aus ihrer Manteltasche hervor und schnäuzte sich kräftig. Da lief Ben auf sie zu, löste im Laufen den Strauß aus dem Papier, streckte ihr die Blumen hin und sagte, weil ihm in der Sekunde absolut nichts anderes einfiel, unbeholfen lächelnd: »Hallo, Iris! Hier, für dich!«
Langsam hob sie den Kopf. Das in die Stirn hängende Haar wich zurück und teilte sich in zwei seidig-blonde Wogen, und sie sah ihn mit leicht vorgestrecktem Kinn so überrascht an wie jemand, der länger in die Lektüre eines Romans vertieft war und nur ganz allmählich in die Wirklichkeit zurückfindet.
»Hallo, Ben«, sagte sie halblaut in das Gekrächze der weithin über das Gleis hallenden Ansagerstimme, die rief: »Alles einsteigen! Türen schließen selbsttätig! Vorsicht bei der Abfahrt.« Dabei schob sie das zu einer hellen Kugel zusammengedrückte Papiertaschentuch in ihre rechte Manteltasche und griff nach dem Strauß.
Die Spannung, die zwischen ihnen herrschte, war für beide mit Händen zu greifen, denn alles, was sie ab sofort sagten und taten, schien groß und schicksalhaft.
»Du hast mir gefehlt«, sagte Ben, vermied aber die innige Umarmung, nach der es ihn so sehr verlangte, und fuhr sich stattdessen ein paarmal mit der Hand über das unrasierte Kinn.
»Schön«, sagte sie und gab ihm den Strauß zurück, indem sie sich nach ihrer auf dem Boden stehenden Tasche bückte. Stumm liefen sie nebeneinanderher zum Ausgang.
Als sie wenig später in seinem Wagen saßen, schwiegen sie und spürten doch jeder für sich, dass sie auch mit ihren ungesagten Worten Dinge berührten, die sie nicht im Griff hatten. Irgendwann brach sie schließlich das Schweigen: »Ich habe getan, worum du mich gebeten hast.« Nur diesen einen Satz sagte sie.
Ben,
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