Die Ängstlichen - Roman
einer Befreiung gleich?
Gewiss: Als alter Mensch unter Alten zu leben hieß, sich noch einmal umstellen und sich zusätzlich zu der eigenen Sehschwäche und der eigenen Unbeweglichkeit mit der Schwerhörigkeit, dem Starrsinn und der Inkontinenz der anderen arrangieren zu müssen und darauf zu hoffen, dann und wann beim Kartenspiel einen leisen Triumph in Form der meisten Stiche zu erleben. Doch lag darin nicht auch eine gewisse Herausforderung? Denn je älter sie wurde, desto mehr musste Johanna sich eingestehen, dass sich nicht etwa Weisheit oderGelassenheit einstellten, sondern, im Gegenteil, Lebenshunger und Unduldsamkeit. Die Menschen konnten regelrecht rabiat werden im Alter, und am meisten fürchtete sie sich davor, ihrer eigenen Gier im Angesicht der anderen Insassen zu begegnen. Einer Gier, die die Gesellschaft mit ihren Tabus in Schach zu halten suchte und die dort wuchs, wo aus ihren Kernfamilien ausgeschiedene Menschen aufeinandertrafen, die sich in Rommeerunden und bei Plattenabenden und gemeinsamen Spaziergängen eine Zeitlang gegenseitig davon abzulenken suchten, dass das Leben hinter ihnen lag und dass die Konturen des Todes mit jedem Tag ein bisschen schärfer hervortraten.
Glück haben hieß fortan die größte Portion Leberkäse erwischen, die makelloseste Banane oder einen Platz in der ersten Reihe beim Sonntagskonzert im nahen Pavillon.
Andererseits dachte sie: So ein Leben habe ich ja nie gelernt, ein Leben unter Alten, meine ich. Ich habe doch immer nur mit Jüngeren zusammengelebt. Was weiß ich denn schon von alten Leuten? Nichts, nicht die Bohne. Und trotzdem soll ich mich nun fortschaffen wie einen alten Tisch, den man in ein Lager für ausrangierte Möbel steckt, wo es nach Staub und feuchten Wänden riecht. Ein Leben lang rackert man sich ab, bloß, um sich am Ende in einem Raum mit alten Menschen wiederzufinden, die einen argwöhnisch taxierten.
Johanna war hin und her gerissen, was eine sichtbare Rötung ihrer Wangen zur Folge hatte. Im Spülstein türmten sich der Gemüsehäcksler, Teller und diverse Schüsseln, Messer und Plastiklöffel in einem knisternden Schaumberg. Unter dem Tisch die Spuren ihres Kampfes mit dem Häcksler: die dorthin gefallenen Karotten- und Kohlrabischnipsel.
Auf dem Herd köchelte in ihrem größten, schwarz emaillierten Topf das Suppenhuhn, das sie auf dem Markt besorgt hatte und aus dem sie das Frikassee zubereiten würde, über allemeine würzige, den Geruch von Sellerie und Petersilie atmende Dunstglocke.
Abschied. Ein Wort, dem in der Regel nichts Gutes anhaftete. Eines mit Gewicht. Genau wie die Worte »Unglück«, »Schicksal« oder »Tod«. Wie oft hatte sie in ihrem inzwischen doch ziemlich langen Leben Abschied nehmen müssen? Von Verwandten, Freunden und guten Bekannten. Aber auch von Träumen, Wünschen und im Stillen gehegten Illusionen.
Im Abschiednehmen war sie inzwischen ziemlich geübt (Janek hatte ihr diesbezüglich zuletzt nahezu alles abverlangt).
Sie wischte flüchtig ihre feuchten Hände an der Schürze ab, wandte sich von dem unmerklich kleiner werdenden und in sich zusammensackenden Schaumberg im Spülstein ab und lief, von einem jähen Impuls in Gang gesetzt, ins Wohnzimmer hinüber. Dort angekommen, machte sie die mit quittengelben rechteckigen Butzenscheiben verzierte Tür ihres Geschirrschranks auf und förderte daraus die an den Kanten abgestoßene Pralinenschachtel mit den Fotos zutage. Dann ging sie zur Couch, betätigte mit der rechten Fußspitze den Tippschalter der Leselampe, nahm Platz und begann, mit der geöffneten Schachtel auf dem Schoß, die ersten Bilder zu betrachten. Mit jedem Foto wurde ihr das Herz ein bisschen schwerer. Und auf einmal war es, als müsse sie sich nur zurückwenden, um wieder auf der Hohen Tanne zu sein.
Das Haus an der zugigen Hochstädter Landstraße war bei Angriffen der Engländer an seiner Südseite beschädigt worden und seitdem durchlässig für Wind und Regen. Die Kinder hatten die unruhigen Nächte unter schweren, nach Rauch und Staub riechenden kastanienbraunen Wolldecken verbracht, die Johanna von dem Bauer in Gelnhausen, bei dem sie mehrfach Zigaretten gegen Brot, Butter und Speck eintauschte, bekommenhatte. Sie selbst hatte in einem Wehrmachtsschlafsack genächtigt.
Paul hatte in Russland an dem ebenso sinnlosen wie aussichtslosen Krieg teilgenommen, als Funker auf der Krim, und Johannas Leben als Mutter von drei Kindern war – mitten im Krieg – zu einer Aufgabe geworden, die
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