Die Ängstlichen - Roman
Koblenz, so als läge im Fahren, im anstrengungslosen Gleiten durch fremde Gegenden die Möglichkeit eines Ankommens, die Möglichkeit der Verwandlung. Als müsse er nur lange genug fahren, um ein anderer werden zu können. Und als ließe sich alles mit einer einzigen langen Ausholbewegung neu justieren. Gleichzeitig spürte er, dass alles, was er tun konnte, auf gewisse Weise falsch sein würde. Denn da war diese Leere, die ihn erfüllte, und die plötzliche Leere der Dinge um ihn.
Die Geldübergabe am Morgen, Janeks im Halbdunkel unscharfe, maskenhafte Züge, die letzte Begegnung mit Iris und ihr minutenlanges Schweigen und auch seine Fahrt durch die vielen kleinen Orte entlang des Rheins – alles kam ihm plötzlich so unwirklich vor, wie Szenen aus einem Schwarzweißfilm, den er vor langer Zeit gesehen hatte.
Ben blickte hinaus auf die hinter den Scheiben vorbeiziehenden Felder, die im Bann eines schmerzhaft schönen Lichts standen und ihm ebenfalls unwirklich erschienen, wie gesehen und doch nur mit offenen Augen geträumt.
»Du kannst einem manchmal richtig Angst machen«, hatte Iris einmal zu ihm gesagt, als er ihr seine Sicht der Dinge darzulegen versuchte. Da hatte er sie unsicher angesehen und gelacht.
Die Nadel der Tankanzeige näherte sich bedenklich dem roten Reservebereich, bedenklich deshalb, weil er kaum noch Bargeld besaß.
Ben fuhr von der Schnellstraße ab und lenkte den Wagen in eine Haltebucht. Er hatte keine Kraft mehr. (Sah denn niemand, wie schwer es war, einfach nur am Leben zu bleiben?) Er stellte den Motor ab und sank über dem Steuer zusammen.
A ls er sich im Halbdunkel aufsetzte und seine Füße den kalten Boden berührten (die Schuhe hatte er ausgezogen und, wie es seine Art war, fein säuberlich nebeneinander gestellt), schien etwas auf sein Gesicht zuzuschießen, dort anzuhalten und seine Lippen zu berühren.
Reflexartig fuhr sich Rainer mit der Hand an die Stelle und spürte die heftig flatternden Flügel einer Motte. Mit einem gezielten Griff bekam er das Insekt zu fassen und schob es sich, ohne zu überlegen, in den Mund.
Sekundenlang spürte er das aufgeregte Vibrieren des Falters auf der Zunge und am Zahnfleisch. Dann drückte er den kleinen zuckenden Körper energisch mit der Zunge gegen den Gaumen, zerbiss ihn mit zwei, drei kräftigen Kaubewegungen und schluckte das Ganze hinunter. Anschließend erhob er sich mit einem salzigen Geschmack im Mund und trat an das vergitterte Kellerfenster, durch welches das bräunlich durchsiebte Vormittagslicht hereinfloss. Die wenigen Farben, die draußen auszumachen waren, schienen zu glühen.
Rainer beobachtete sich selbst wie durch eine gläserne Wand, voller Entsetzen, aber auch voller Verwunderung. Und er hätte manches zu seiner Verteidigung vorbringen können: seine verkümmerte Ehe, die ihn bloß noch Kraft kostete, statt ihm welche zu spenden; oder den enormen Leistungsdruck, unter dem er täglich stand; nicht zuletzt den menschenverachtenden Zynismus der Polizei, die ihn dazu gebracht hatte, sich, so ohne Auto, minderwertig zu fühlen. In Wahrheit aber (und das ahnte er in einer entlegenen Region seines Gehirns) hatte er allein dies alles in Gang gebracht: Seinetwegen lag dieser Mann verletzt in der Halle. Seinetwegen glich seine Ehe mit Ulrike einer Trümmerlandschaft, und seinetwegen irrten ihre Kinder durch eine Welt voller nutzloser Verlockungen, ziellos und ohne Plan (in seinen Augen war es nur noch eineFrage der Zeit, bis auch sie explodierten). Keine Frage, es war ein schwindelerregendes Leben!
Am liebsten wäre er auf der Stelle eingeschlafen. Doch er hatte Angst, mit großen schwarzen Löchern in seiner Erinnerung aufzuwachen. Und so hielt Rainer in seinen Gedanken inne, als er vom Gang her Geräusche vernahm.
Sie sind es wieder, dachte er. Natürlich sie! Wer denn sonst? Die Polizei etwa? Und wenn schon! Sie wollen bloß, dass ich aufmache. Doch da können sie lange warten. Soll nur mal einer versuchen, hier reinzukommen, dachte er grimmig. Dabei umfasste er mit der einen Hand den glatten Griff des Beils, das er im Regal gefunden hatte, während er mit der anderen dessen Holzmaserung erforschte.
»Geht weg!«, rief er durch die schwere Metalltür hindurch.
»So mach doch auf, Schatz«, drang Ulrikes Stimme als dumpfes Echo herein, begleitet von einem sachten Pochen an die Tür. Da wandte er sich um und tat einen Schritt auf die Tür zu, riss das Beil in die Höhe und schlug es wütend dagegen. WUMM.
»Haut
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