Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Ängstlichen - Roman

Die Ängstlichen - Roman

Titel: Die Ängstlichen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
Vom Netzwerk:
ab!«, rief er und ließ die Axt mit ausgestrecktem Arm langsam auspendeln.
    Ein spitzer Schrei ertönte. Und nach einer Pause rief Ulrike, schluchzend: »Rainer, bitte, ich flehe dich an! So mach doch auf! Alles wird gut, so glaub mir doch!«
    Beim Blick auf seinen herabhängenden Arm sah er, dass er sich an dem Beil geritzt haben musste. Seine rechte Hand war blutverschmiert. Doch Rainer hätte nicht sagen können, dass er irgendeinen Schmerz verspürte. Nein, nicht den geringsten.
    »Denk doch an die Kinder«, schallte es gedämpft zu ihm herein.
    Da wandte Rainer sich ungerührt um, legte das Beil neben die zu einem kleinen Turm bis unter die Decke aufeinandergestapeltenUmzugskartons auf den alten Schreibtischstuhl und trat näher an den engen Lichtschacht. In einem 60-Grad-Winkel sickerte die Helligkeit herein. (Auf einer der Kisten stand – es war seine eigene Handschrift, das konnte er deutlich erkennen – das Wort »BÜCHER«. Dabei konnte es sich nur um Ulrikes ausrangierte Erleuchtungsschriften handeln, die sie eine Zeitlang wie besessen gelesen hatte. Bände mit Titeln wie »Der lange Weg zu mir selbst« oder »Du bist die Welt«.)
    Argwöhnisch betrachtete er seine Hand. Am rechten Handgelenk trat stetig, aber in nicht sehr großen Mengen Blut aus. Es sammelte sich zu einem kleinen Rinnsal und lief an seiner Hand herab.
    Er drehte die Hand im fahlen Licht hin und her, und dann tat er etwas, das ihn selbst überraschte: Er nahm das Blut mit dem Zeigefinger der anderen Hand vorsichtig auf und verteilte es abwechselnd auf beide Wangen, wo er es großflächig verrieb. Anschließend wiederholte er es so lange, bis er das sichere Gefühl hatte, sein ganzes Gesicht sei mit einer dünnen Schicht aus Blut überzogen. (Dabei musste er an die Reportage denken, die er kürzlich im Fernsehen verfolgt hatte und in der KZ-Frauen zu sehen gewesen waren, die sich vor den wiederholten Selektionen in den Lagern ihre Gesichter mit Blut eingerieben hatten, um den Ärzten, die darüber entschieden, wer von ihnen ins Gas geschickt wurde und wer stark genug war, um weiterzuarbeiten, einen gesünderen, frischeren Teint vorzugaukeln.)
    Die Bilder hatten ihn peinlich berührt und waren ihm noch eine ganze Zeitlang nachgegangen. Und nun befand er sich ebenfalls in einer Ausnahmesituation. Denn dass er fortan auf sich allein gestellt sein würde, daran bestand für Rainer kein Zweifel. Trotzdem (oder gerade deshalb) war er fest entschlossen, seine kleine unterirdische Festung bis zum letzten Blutstropfen zu verteidigen.
    Ich habe diesen Weg eingeschlagen, sagte sich Rainer, und ich werde ihn zu Ende gehen, egal, wohin er mich führt.
    »Und du wirst mich nicht daran hindern!«, schrie er lauthals in die Stille des halbdunklen Kellerraums. »Du nicht!«
     
    H elmut hatte in diesen Minuten das sichere Gefühl, auf der Seite der Gewinner zu stehen. Und so sah er dem Treffen in der Ankergasse mit der Vorfreude eines Mannes entgegen, der das Glück auf seiner Seite wähnte und gewillt war, dies den anderen plastisch vor Augen zu führen. (Denn dass er selbst die drögeste Party innerhalb kürzester Zeit in eine One-Man-Show zu verwandeln vermochte, dafür war Helmut inzwischen leider ebenso berühmt wie gefürchtet.)
    O ja, ich fühle mich so gut wie schon lange nicht mehr, dachte Helmut. Glänzend geradezu. Sein Krankenhausaufenthalt war Geschichte, und die alten Lebensgeister waren ebenso rasch und mit solcher Macht in ihn zurückgekehrt, dass er sich nur darüber wundern konnte, weshalb er je geglaubt hatte, Tod und Verderben könnten womöglich der Preis für seine Art, das Leben zu genießen, sein.
    Helmut stand im Badezimmer und kratzte sich mit seinem Gilette-Nassrasierer ausgelassen die mit Spike-Rasierschaum bedeckten Bartstoppeln aus den Mundwinkeln (am liebsten hätte er auf der Stelle begonnen zu pfeifen). In der Küche röchelte seine elf Jahre alte Melitta-Filter-Kaffeemaschine und presste mit letzter Kraft die schwarzbraune Lauge in die Glaskanne.
    Der Duft des frisch gebrühten Kaffees wurde wie das belebende Versprechen für einen schönen Samstag angetrieben; erste Wogen des Botenstoffs Serotonin brachten sein Herz-Kreislauf-Systemordentlich in Schwung und verpassten seiner leicht lädierten Leber die eine oder andere Streicheleinheit.
    Gegen drei würde er seine Mutter und deren kleine Gesellschaft mit seiner Anwesenheit beglücken, sich nach zwei Stunden nonchalant verabschieden und ins Golfclubrestaurant

Weitere Kostenlose Bücher