Die Ängstlichen - Roman
ihm vorbei, und der zum offenen Fenster hereinwirbelnde Fahrtwind wühlte in seinen Haaren.
Seit Iris und er sich getrennt hatten (Aber hatten sie das denn wirklich? Oder bildete er sich das nur ein?), fühlte er sich vollkommen zerrissen: Einerseits verspürte er den intensiven Wunsch, nicht ohne sie zu sein. Andererseits war da das stete Gefühl, fliehen zu wollen vor den bohrenden immergleichen Fragen, auf die er keine Antworten besaß. Und – am schlimmsten: vor der permanenten Konfrontation mit sich selbst. Mehr als einmal hatte er im Zustand ständiger Introspektion Angst gehabt, verrückt zu werden und nie mehr loskommen zu können von diesem ständigen Starren und Hineinhorchen nach innen. Ein paarmal hatte er Iris gegenüber von dieser Befürchtung gesprochen, worauf sie ihm überraschend gelassen geantwortet hatte: »Das wird dir nicht passieren, Liebling. Einige werden verrückt, andere nie. Du sicher nie.« Doch wenn er spätabends, an verkaufsoffenen Donnerstagen, in der mickrigenPlattenabteilung von »Kaufhof« stöberte, Platten in die Hand nahm und später, in der Buchabteilung, lustlos in Bestsellern blätterte, war er sich da nicht mehr so sicher. Dann sah er sich umgeben von ähnlich gepolten Leuten, Singles, uniformierten Sicherheitstypen und älteren Männern, die genau wie er niemanden hatten, der sie zu Hause erwartete und die darum das Nachhausegehen so lange wie möglich hinauszögerten. In solchen Momenten hätte er am liebsten um Hilfe schreien wollen, doch die Vorstellung, es dann auch wirklich zu tun, erschreckte ihn ebenso sehr wie die, es nicht zu tun. Und wenn er dann, daheim angekommen, als erstes in den Badezimmerspiegel starrte, dann war da manchmal niemand zu sehen, so als sei der, den er zu sehen erwartete, schon weg, schon verschwunden in der leuchtenden, frostigen Welt.
Wenn die Krise (genauer: die Angst) in ihn zurückkehrte (was alle paar Monate der Fall sein konnte) und sein Leben nunmehr dieser dunklen unheimlichen Gravitation der Angst zu folgen schien, dann war ihm, als hätte es nie etwas anderes gegeben.
Einmal, auf dem finsteren Höhepunkt einer Krise, hatte er angefangen, mit Kleidern ins Bett zu gehen, hatte aufgehört, sich zu waschen, sich die Zähne zu putzen, zu rasieren und regelmäßig zu essen. So hatte er mehrere Wochen in einem Zustand wachsender Verwahrlosung zugebracht, abgemagert und fühllos. Die meiste Zeit stand er barfuß am Fenster seiner Wohnung und starrte hinaus, trank in großen Mengen Möhren-Apfel-Saft und aß ausschließlich Brand-Zwieback (davon hatte er stets mehrere Packungen im Haus). Bis sein Stuhlgang gelb und matschig, seine Zähne stumpf und braun und sein Haar störrisch und spröde wurde und er mehr einem Zombie glich als jenem jungen Mann, der er war und der einmal an so etwas wie Glück und Zukunft geglaubt hatte.
Irgendwann hatte er begonnen, sich Techniken zuzulegen, mit deren Hilfe er der Angst zu trotzen versuchte. Doch er war allein und die Angst unberechenbar. Und am schlimmsten: Sie hatte ihn (ja,
ihn!
) als größten Verbündeten. Denn natürlich war er allein der Ausgangspunkt, der Produzent all der Ängste, die ihn schüttelten, er ganz allein! Und erst als er anfing, das zu begreifen, ging es mit ihm langsam, in kleinen Schritten bergauf.
Auf den Rat seines Freundes Kaplan, dem er sich irgendwann anvertraut hatte, führte er seither ein »Erfolgstagebuch« (ja, so nannte er das); eine Art Tagebuch, in dem er ausschließlich Dinge protokollierte, die er als positiv empfand. Das Ergebnis waren Eintragungen wie die folgenden:
Montag, 23. August:
Konnte fast störungsfrei sehen, kaum noch Schwindel. Konnte gut essen, das erste Mal sogar wieder im Sitzen. Das Duschen (ohne das Zittern) machte mir keine Angst. Auch Fernsehen scheint wieder möglich, wenn auch nur im Stehen.
Freitag, 27. August:
Wetter war gut. Erfolgreich den ersten Spaziergang unten am Main unternommen. Ganz allein!!! Wow. Keine Angst mehr vor dem Alleinsein. Das Starren hat aufgehört. Konnte sogar ein Geschäft betreten (um mir eine Bluna zu kaufen).
Donnerstag, 3. September:
Bin gut aufgestanden. Kein Zittern mehr in den Beinen. Die Sehstörungen haben ebenfalls aufgehört. Auch keine kalten Hände mehr. Ich glaube, es wird alles wieder gut. Nein: Ich weiß es!!!!!!
Ben nahm hinter Dörnigheim die Autobahnauffahrt Richtung Frankfurt und fuhr lange ziellos in der Gegend herum, fuhr nach Mainz, nach Wiesbaden und sogar bis nach
Weitere Kostenlose Bücher