Die Ängstlichen - Roman
verstopft. Skrupellos hatte er einfach ins Waschbecken gepisst und sich im Spiegel dabei zugesehen, wie er sein verschrumpeltes Glied über den rostfleckigen Beckenrand hob. Er hatte in seinen Kleidern geschlafen. Selbst den Mantel hatte er anbehalten, nur die Schuhe abgestreift.
Allein zu sein war für manche asozial und egoistisch. Doch man war unabhängig und zog niemand anderen mit sich hinunter, wenn es mit einem bergab ging. Viele hatten Angst vor dieser Art von Einsamkeit. Ihn aber machte sie frei, stark und unverwundbar.
Eine Viertelstunde später klopfte es an seiner Tür. Er hielt den Atem an, packte die neben sich auf dem Bett liegende Pistole und schlich auf Zehenspitzen zur Tür. Er legte den Kopf seitlich dagegen und versuchte zu horchen. Doch als eine weibliche Stimme »Frühstück!« rief, schob er die Beretta, eine 9-mm-Parabellum, unter das Kopfkissen, schloss zögerlich aufund blickte in das gelangweilte, von brünettem Spaghettihaar umrahmte Gesicht einer viel zu stark geschminkten Frau.
Auf dem Tablett, das sie ihm hinhielt, standen eine Kanne Kaffee und eine weiße Tasse ohne Unterteller. Auf einem weiteren Teller ein Stück fettig glänzende Fleischwurst. Daneben eine weiße Papiertüte, in der ein Brotlaib steckte.
»Und die Zigaretten?«, sagte er und sah sie vorwurfsvoll an.
»Wenns dir nicht passt, kann ich das Zeug ja wieder mitnehmen!«, blaffte die Frau und machte eine Vierteldrehung nach links, wo es den Gang runter zur Treppe ging.
»Also gib schon her«, sagte er unwirsch, ohne sie nochmals anzusehen, nahm ihr das Tablett aus den Händen und schob mit dem Knie die Tür hinter sich zu.
Er stellte das Tablett auf dem Bett ab, goss Kaffee ein. Das Brot war überraschend frisch. Er zog den goldbraunen Laib aus der Tüte, riss an der einen Seite einen Fetzen heraus und schob ihn sich in den Mund. Beim Zubeißen erschütterte das Knacken der harten Kruste zwischen seinen Zähnen seinen ganzen Kopf, und als er schluckte, schien der warme Klumpen Teig förmlich in seinen knurrenden Magen zu fallen. Der Kaffee schmeckte abgestanden und bitter, dafür versöhnte ihn der süßlich-herbe Hefeduft des Brotes. Die Wurst rührte er nicht an. Mit einer jähen Bewegung brach er den Brotlaib auf und bohrte seine rechte Hand in die weiche warme Masse, als handele es sich um die blutwarmen Eingeweide eines eben erlegten Tieres. Augenblicklich begann die Wärme die Haut zu überziehen und in das Innerste seiner Knochen vorzudringen, ein wohliges Kribbeln wanderte langsam armaufwärts. Daraufhin zog er die Hand heraus und schob die andere hinein, doch der Effekt war nicht mehr der gleiche, und er zog sie wieder heraus.
Noch mochte Dreyfuss nicht wissen, dass er sich an einem solchen Ort versteckte, in einem Stundenhotel in Hanausverrufenster Gegend. Doch es war wohl nur eine Frage der Zeit, bis sie ihn in seinem Versteck aufgespürt hatten. Er musste auf alles gefasst sein.
Durch die dünnen Wände erklang wiederkehrend das verlogene Stöhnen der 50-Euro-Huren im Nebenzimmer, und drehte er den Wasserhahn auf, rann eine rostbraune Brühe in das stumpfe, von Hunderten kleiner Risse durchzogene Becken.
Je deutlicher er seine unter Umständen ziemlich ungemütlich werdende Zukunft vor sich sah, desto kämpferischer gab er sich. Denn er war ein Spieler, und wer ein echter Spieler war, suchte nicht allein den Gewinn, sondern die Lotterie und jene einzigartige, unvergleichliche Anspannung, die einen in Atem hielt, belebte und einem alle Sinne frottierte, solange alles in der Schwebe war zwischen Sieg und Niederlage.
Beim Wetten, das hatte er in all den Jahren gelernt, kam es auf zwei Dinge an: Psychologie und Informationen. Insbesondere beim Pferdewetten. Man brauchte Zeit, um Informationen über die Pferde, die an den Start gingen, zu sammeln, wie sie zuletzt trainiert und was sie gefressen hatten und was der Jockey nach dem Aufstehen am Renntag wog. Und verfügte man über all diese Informationen, brauchte man sie bloß noch zusammenzusetzen und sich einen Überblick darüber zu verschaffen, welche Quoten das einzelne Pferd brachte. Gleichzeitig musste man die anderen Spieler im Auge behalten. Bekam ein Pferd zu hohe Quoten, setzte er darauf, ob er an dessen Sieg glaubte oder nicht. Auf lange Sicht verdiente man auf diese Weise – und die anderen verloren. So einfach war das! Spielen war ein Laster und vielleicht sogar eine Krankheit. Doch er liebte diese Krankheit und lebte nach ihren Gesetzen.
In
Weitere Kostenlose Bücher