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Die Ängstlichen - Roman

Die Ängstlichen - Roman

Titel: Die Ängstlichen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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langsam alles zur Ruhe. Die Stimmen der im schützenden Schatten der hoch aufgeschossenen Tannen auf ihren Pritschen hinter dem Speisesaal liegenden Kinder verstummten nach und nach. Bis nur noch das kurze, sich entfernende Brummen einer Hummel zu vernehmen war, die kreiselnd in den wolkenlos blauen Himmel entschwand.
     
    D ie Krämerstraße, in der Teppichhändler, eine Hamburger-Station und eine ganze Reihe anderer zwielichtiger Barbetreiber noch immer eine irritierend prosperierende Allianz zur Schau stellten (von gelegentlichen Schießereien abgesehen; Streit kommt bekanntlich in den besten Familien vor), hatte wieder ihr unverfängliches Kleid für den Tag angelegt. Nur die Fotos auf Barhockern sich räkelnder, spärlich bekleideter jungerDamen in den mit blauem oder weinrotem Samt ausgeschlagenen Schaufenstern der »Downtown Bar«, des »Vat 69« oder des »Blue Night«-Clubs erinnerten noch daran, was in den Hinterzimmern gespielt wurde, sobald die Nacht über Hanaus Dächer glitt und die anspringenden Leuchtreklamen den Freiern und Vergnügungssüchtigen die entsprechenden Signale gaben.
    Im Hanauer Bürgermeisteramt herrschte unterdessen hektische Betriebsamkeit. Scharen von höchster Stelle in die entsprechenden Referate entsandter Stadtdiener eilten mit alarmierenden Hausmitteilungen unter den Armen im Sturmschritt über die Gänge. Die Telefonleitungen zwischen Bürgermeisteramt, Tiefbauamt, Technischem Hilfswerk und der Feuerwehr glühten. Für den frühen Nachmittag war eine außerplanmäßige Sitzung des Stadtparlaments einberufen worden. In Hanaus Politzentrale war die Sorge angesichts der Zustände in den Straßen mit Händen zu greifen. Worte wie »Notstand«, »Evakuierung« und »Katastrophengebiet« machten bereits ungeniert die Runde auf den Fluren, phonetische Viren, die Chaos stifteten und schneller in die Köpfe eindrangen als Karies in schlecht geputzte Kinderzähne. Doch wer amerikanische Bombardements überstanden hatte und aus brennenden Ruinen wiederauferstanden war, würde auch den üblen Launen himmlischer Mächte trotzen. Was sich im Bürgermeisteramt ereignete, war Tagesgeschäft unter erschwerten Bedingungen sozusagen, mehr oder weniger geschickt inszeniertes Krisenmanagement, Kosmetik. Die Brüder-Grimm-Stadt drohte vielmehr an ihrer selbstgemachten Spießbürgerlichkeit genauso langsam und qualvoll zu ersticken wie die beiden Stechpalmen auf dem Fensterbrett der in die Jahre gekommenen Vorzimmerdame des Bürgermeisters, Helene Voss, deren Gieß- und Düngewut den beiden an sich robusten Gewächsen konsequent den Garaus gemacht hatte.
    Im Rathaus am Freiheitsplatz hatten seit Jahren die Konservativen das Sagen, Männer und Frauen, die zäh zu verhindern wussten, dass die Stadt ihre längst überfällige Perestroika erlebte. So stand ihre angezählte Gemeinde vor dem finalen Kollaps, und im Herzen der Stadt herrschte Agonie. Zwar hatten bizarre Fälle von massiver Steuergeldverschwendung den einen oder anderen führenden Politiker aufsehenerregend aus dem Amt gespült und bei den verbliebenen Widerständlern für kurze Zeit die Illusion einer möglichen Trendwende geschürt; doch der in Anmaßung wurzelnde Aberwitz war in der Kreisstadt an Main und Kinzig seit Jahr und Tag Methode. So hatten die Stadtplaner das sich sternförmig ausdünnende Stadtbild mit blinder Betongläubigkeit in Tag und Nacht vom Gebell und Gestöhne sklerotischer Altenheimbewohner erschüttertes Ödland verwandelt: Hanau war zu einer Gerontokratie verkommen. Das sich wie ein Krebsgeschwür in Form immer neuer Bauten, phantasieloser Bungalows und barrierefreier 50-Quadratmeter-Wohnzellen unaufhaltsam Richtung Altkesselstadt ausweitende Herz-Jesu-Stift bestimmte inzwischen einen markanten Teil des Stadtbildes. Und mittendrin: die Jansens. Oder besser das, was nach quälend langen Jahren halbherzig geführter Feldzüge gegen außer Kontrolle geratene Gene, Missbrauch und den Irrsinn erblicher Vorbelastung von ihnen übrig geblieben war.
     
    J anek, der im Moment andere Sorgen hatte als Verkalkung, Rheuma oder Diabetes, stand im vierten Stock des drittklassigen Hotels Regina am Fenster und betrachtete die nächtliche Bescherung aus der Vogelperspektive.
    Die Regengüsse hatten Hanaus Straßen in reißende bleigraue Bäche verwandelt, auf denen die unterschiedlichstenDinge trieben: abgerissene Markisen, Kleidungsstücke, Babywindeln und, auf der Höhe des Hauptpostamts, die Leichen zweier von niemandem vermisster

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