Die Ängstlichen - Roman
Obdachloser, die in dem knietiefen Kanal ihr nasses Grab gefunden hatten.
Auf einer Baustelle im südlichen Teil der Stadt waren drei von vier Baukränen umgekippt und in umliegende Gebäude gestürzt. In zweien der Kräne hatten noch deren Führer gesessen, und keiner von beiden kehrte bedauerlicherweise an die von ihren Ehefrauen liebevoll gedeckten Abendbrottische zurück.
Infolge zerstörter Hochspannungsleitungen lagen weite Teile der Stadt auch gegen Mittag noch in künstlicher Dämmerung, im Vinzenz-Krankenhaus sorgte die Feuerwehr mit Hilfe von Generatoren für die Aufrechterhaltung der Stromversorgung. Parkende, von herabgestürzten Ästen und Dachziegeln verwüstete Fahrzeuge standen bis über die Kotflügel im Wasser. Ihre betroffenen Besitzer saßen in klammen Parterrewohnungen, deren Keller bereits vollgelaufen waren, und starrten konsterniert auf Versicherungspolicen, die Schutz gegen sogenannte »höhere Mächte« nicht vorsahen. Aus Hunderten überfluteter Kellerräume trieben Einmachgläser, Weinflaschen, aufgequollene Spätkartoffeln und Winterkleider durch eingedrückte Fenster, um einzugehen in das riesige, buntscheckig durch die Straßenkanäle schwappende Patchwork der Verwüstung.
Hoch über allem erstrahlte eine freundliche Morgensonne. Einzelne Strahlen schoben sich, ähnlich jemandem, der auf die Mitteilung hin, sein Vater sei gestorben, lauthals zu lachen begann, zynisch zwischen den Wolken hindurch und tauchten das Durcheinander in ein mildes, unwirkliches Orange. Hier und da blinkten auf den Dächern die Metallschornsteine, was der Szenerie etwas unpassend Friedliches verlieh.
Hätte bloß noch gefehlt, dass am Himmel eine Handvollknallbunte Luftballons vorbeischwebt, dachte Janek und drückte die letzte Zigarette aus. Er beobachtete, wie sich vereinzelte Fahrzeuge erfolglos durch die Wassermassen zu kämpfen versuchten. Seine Augen tränten, und seine Zunge und sein Gaumen brannten vom Nikotin. Die halbe Nacht hatte er wie ein Verrückter geraucht, im Dunkeln auf dem Bett gesessen und in Erwartung von Dreyfuss’ Leuten auf die vom hereindringenden Mondlicht schwach beleuchtete Tür gestarrt. Mit aller Kraft hatte er sich aus Angst, überrascht zu werden, gegen das Einschlafen gesträubt und war so Zeuge des Sirenengeheuls der Polizei- und Rettungsfahrzeuge geworden und der Schreie draußen auf dem Flur. Wie bei einem Blinden hatte die Dunkelheit seinen Tast- und Geruchssinn geschärft. Einmal war er zur Wand geschlichen und hatte seinen Rücken dagegengepresst, während er reglos dastand und lauschte. Irgendwann hatte er sich entlang der Wand zum Stuhl getastet, der, wie er wusste, in der linken Ecke des Raums stand. Vorsichtig hatte er ihn in die Mitte des Raums geschoben wie jemand, der vorhat, sich aufzuhängen. Dabei hatte er die Schritte gezählt und die Tür im Auge behalten. Gegen Morgen hatte er sich schließlich geschlagen gegeben und war hinabgesunken in einen dünnen, viel zu kurzen Schlaf. Schon gegen Mittag hatte der Hunger ihn wieder geweckt.
Beim Anblick der vom Unwetter verursachten Verwüstungen an den Fassaden gegenüber und den unten glucksend durch die Straßen wogenden Wassermassen musste Janek an die Geschichte aus Polen denken, die sein Vater ihm einmal vor langer Zeit erzählt hatte. Ein Freund hatte in seinem Garten, direkt unter einer großen Kastanie, seine eine Woche vor Beginn heftiger Regenfälle an Krebs gestorbene Frau begraben. Dann war das Hochwasser gekommen, und als es zurückging, fand der Bauer ihre Leiche, verheddert in den kahlen Ästen der Kastanie.Ein Anblick, den er nie vergessen konnte. Nachdem das Hochwasser wieder verschwunden war, fällte er die Kastanie, verbrannte sämtliche Äste und sprengte den übrig gebliebenen Stumpf mit einer Ladung Dynamit in die Luft. Und weil er der Natur nicht mehr traute, ließ er seine Frau, obwohl er ihr geschworen hatte, dies niemals zuzulassen, ebenfalls verbrennen.
Janek setzte sich aufs Bett, nahm den Telefonhörer von der Gabel, und als eine Frauenstimme erklang, sagte er: »Ich will frühstücken! Brot, Wurst, Kaffee. Und Zigaretten. Zimmer siebzehn. Danke.« Dann legte er auf.
Der Anblick des Hotelzimmers spiegelte seine augenblickliche Situation angemessen wider: Das Bettzeug stank, an mehreren Stellen an der Wand hatte sich die verblichene grüngraue Tapete gelöst und hing schlaff herab. In den Ecken Schimmel. Der Teppich war rund ums Bett mit Brandflecken übersät. Und im Bad war das Klo
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