Die Ängstlichen - Roman
eingeschmuggelt. Ulrike war aufgeschreckt, und das Wort ALARM flackerte rhythmisch auf sämtlichen Bildschirmen ihres inneren Frühwarnsystems.
Rainer seinerseits hatte sich mit der Art, wie sie seit Jahren miteinander schliefen, vor langer Zeit arrangiert. Für ihn war Ulrike eine Musikbox, aus der er trotz einer gewissen Titelauswahl immer die gleiche Melodie zu hören wünschte: das beruhigende Schnurren einer anspruchslosen Hauskatze.Rainer war eben ein Gewohnheitsmensch. Geradezu pedantisch bestand er auf der Wiederholung des Altbekannten; bei der Auswahl der Vorspeisen in den von ihm seit Jahren anhänglich frequentierten Restaurants ebenso wie beim Sex mit seiner Frau. Hier allerdings allein aus dem einen Grund, ihr nicht sein wahres Gesicht des undisziplinierten Rohlings offenbaren zu müssen, der fester zupacken und ungestümer werden konnte, wenn es darum ging, seine Macht zu demonstrieren. Denn darum ging es ihm vor allem im Bett. Jede Geste, jede Regung seines Körpers folgte einer von ihm peinlich genau befolgten Choreographie, wenn er mit Ulrike schlief, um sie in Sicherheit zu wiegen. Wiedererkennung bedeutete Sicherheit, und wenn Ulrike sich sicher fühlte, waren von ihr keine Probleme zu erwarten, und sie kam nicht auf dumme Gedanken. Bei allen anderen aber, die er sich gegen Bezahlung aufs Hotelzimmer kommen ließ, schlug er regelmäßig gehörig über die Stränge. Die eindeutigen Blicke der Frauen, Prostituierte, steigerten seinen Machthunger nur noch. Und so tat er mit ihnen Dinge, die Ulrike sich nicht einmal in ihren kühnsten Phantasien vorzustellen wagte. Doch das musste sie ja auch gar nicht, Ulrike war der täglich sichtbare Ausdruck seines Aufstiegs und aus anderen Gründen als sexuellen unverzichtbar für ihn. Sie gab seinem Außenbild die nötige Schärfe und Stimmigkeit, war eine geschickte Gastgeberin, wenn Konzernbosse nach Fulda kamen, und eine kühle Strategin. Dass sie ihm obendrein drei Kinder geschenkt hatte, in deren blassen Gesichtern er seine eigene unverwechselbare Nase wiedererkannte wie ein Bergsteiger, der viele Jahre zuvor seine Fahne auf einem Achttausender gehisst hatte und sie nun wiedersah, erfüllte ihn noch immer mit großer Zufriedenheit: sein Genpool war stark und würde niemals untergehen.
Seine ersten zaghaften Annäherungsversuche an Frauen dagegenwaren ziemlich danebengegangen. Und lange hatte Rainer die Angst gehegt, niemals eine Frau zu finden, die bereit war, es länger als nur ein paar Tage an seiner Seite auszuhalten. Doch dann war ihm Ulrike über den Weg gelaufen, und weil er spürte, dass sie auf der Suche nach Sicherheit war, setzte er genau dort an. Bis sie schließlich irgendwann und aus unerfindlichen Gründen seinem zumeist unbeholfenen Werben erlag und sich eines Tages neben ihm stehend vor dem Traualtar wiederfand.
Rainer sorgte gut für sie, gab ihr jene Sicherheit und jene Kontinuität, die sie in all der Zeit davor so schmerzlich vermisst hatte. An Rainers Seite hatte Ulrike das Gefühl, Johanna und alles andere, was zur Ankergasse gehörte, ein für alle Mal hinter sich gelassen zu haben. Dass er sich zudem entschlossen zeigte, die oberen Sprossen der Karriereleiter zu erklimmen, was die materielle Sicherheit steigerte, spendete ihr selbst ein wenig das Gefühl, erfolgreich zu sein. Von Anfang an war sie bereit gewesen, sich in den Dienst ihrer Mission zu stellen, die Rainer hieß, und hinter der Aufgabe, ihn zu fördern, zurückzutreten. In den ersten Jahren hatte Rainer Ulrikes erstaunliche Anpassungsfähigkeit bewundernd zur Kenntnis genommen und sich durch ihre unermüdliche Zuwendung wie ein Auserwählter gefühlt, ein von ihr in den Rang eines Prinzen befördertes Glückskind. Doch mit der Zeit hatte sich Ulrikes Altruismus spürbar in subtile Formen der Einflussnahme und der indirekten Machtausübung gewandelt, die Rainer jedes Mal argwöhnisch zur Kenntnis nahm. Aus diesem Grund hatte er irgendwann damit begonnen, sie mit Scheininformationen, die sie eine Zeitlang von ihm ablenkten, zu füttern und auf bereits vor geraumer Zeit stillgelegte Nebenschauplätze umzuleiten, während er listig seine Bettgeschichten abspulte und die Weichen stellenden Entscheidungen ohne sie traf. Zudem hatte er angefangen, ihr Äußeres zu kommentieren. Zunächst defensiv und scheinbar ganznebenbei. Bis er dazu überging, offen Kritik daran zu üben, wie sie sich kleidete und in welchem Zustand sich ihr Körper befand. Und weil Rainer, der sich selbst
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